Neu-Ulmer Zeitung

Deutschlan­dtrend

Im Goethe-Institut in Istanbul wird an sieben Tagen die Woche Deutsch unterricht­et – von früh bis spät. Weil so viele junge Türkinnen und Türken wegwollen aus ihrer Heimat. Darunter sind auch immer mehr Ärzte, Ingenieure und Pflegekräf­te.

- Von Susanne Güsten

Istanbul Meryem schlägt das Heft auf und überfliegt ihre Notizen. Hinter der jungen Frau sind aus dem Fenster des Goethe-Instituts in Istanbul das Goldene Horn, die Hagia Sophia und die Blaue Moschee zu sehen, doch Meryem blickt nach vorne: auf die Zwischenpr­üfung in ihrem Deutschkur­s heute und auf eine Zukunft in Deutschlan­d. „Wie alle in diesem Raum will ich in Deutschlan­d leben“, sagt die 33-jährige Zahnärztin und blickt in die Runde ihrer Mitschüler – lauter junge Ärzte und Ingenieure, die nach Deutschlan­d übersiedel­n möchten. Fließendes und korrektes Deutsch spricht Meryem, obwohl sie erst letztes Jahr mit dem Sprachunte­rricht begonnen hat. „Sie haben Ziele, sie sind motiviert“, lobt die Deutschleh­rerin Emine Karaca ihre Klasse. Die hoch qualifizie­rten Fachkräfte haben Glück gehabt, einen Platz im Deutschkur­s zu ergattern, denn das Interesse an Deutschlan­d ist unter jungen Türken so groß wie nie.

Von morgens um acht Uhr bis um neun Uhr abends wird am Institut unterricht­et, und das sieben Tage die Woche, doch die Nachfrage nach Deutschkur­sen kann das nicht befriedige­n. „Wir schätzen, dass auf jeden Platz in einem Kurs drei Bewerber kommen, die wir ablehnen müssen“, sagt Sabine Haupt, die Leiterin der Spracharbe­it am Institut. Fünfmal im Jahr ist Einschreib­ung für neue Kurse, jeweils vormittags um elf Uhr. „Da sitzen die Leute dann tatsächlic­h vor der Tastatur, und es kommt wirklich darauf an, dass man möglichst schnell tippen kann“, erzählt sie. „Wir haben innerhalb von zwei Minuten eine volle Belegung.“

Die türkische Arbeitsmig­ration prägt das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschlan­d seit mehr als einem halben Jahrhunder­t. Das Thema dürfte auch eine wichtige Rolle spielen, wenn Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier an diesem Montag in die Türkei reist. Anlass für Steinmeier­s Besuch ist das hundertjäh­rige Bestehen diplomatis­cher Beziehunge­n zwischen beiden Ländern. Als Zeichen dafür, wie sehr die Türken zu Deutschlan­d gehören, bringt der Bundespräs­ident 60 Kilogramm Berliner Döner-Fleisch mit. In Istanbul besucht Steinmeier zudem den Bahnhof Sirkeci, von dem aus in den 1960er-Jahren Zehntausen­de türkische Arbeiter ihre Reise nach Deutschlan­d begannen. Die türkische Seite weiß die Geste zu schätzen: Für ihn als „Gastarbeit­erkind“sei Steinmeier­s Besuch in Sirkeci besonders bedeutsam, sagte der aus Herne stammende AKP-Abgeordnet­e Zafer Zirakaya unserer Zeitung.

Am Montag trifft Steinmeier den Istanbuler Bürgermeis­ter Ekrem Imamoglu, der spätestens seit dem Sieg der Opposition bei den Kommunalwa­hlen Ende März der aussichtsr­eichste Herausford­erer von Präsident Recep Tayyip Erdogan ist. Nach einem Besuch im türkischen Erdbebenge­biet steht für den Mittwoch eine Begegnung mit Erdogan auf dem Programm. Zuletzt war Steinmeier kurz nach dem Putschvers­uch von 2016 als deutscher Außenminis­ter in Ankara zu Gast. Damals hätten beide Seiten aneinander vorbeigere­det, erinnert sich der Parlaments­abgeordnet­e und ehemalige AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu, der bei dem Treffen vor acht Jahren dabei war. Heute gebe es zwischen beiden Ländern eine „eher belastbare Grundlage, aber die beiderseit­igen Erwartunge­n sind inzwischen auch sehr bescheiden. Es ist einfach zu viel kaputt“, sagte Yeneroglu.

Und doch verbindet Türken und Deutsche viel – schon allein, weil drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschlan­d leben. Doch heute braucht es hierzuland­e keine ausländisc­hen Bau- und Bergarbeit­er wie damals, als die Gastarbeit­er kamen, sondern gut ausgebilde­te

„In Istanbul gibt es so viele Menschen – ich fühle mich nicht wohl hier.“

Fachkräfte für eine moderne Volkswirts­chaft, die den Sprung ins digitale und klimaneutr­ale Zeitalter schaffen will. Die Türkei steht für viele deutsche Politiker und Unternehme­r bisher nicht in der ersten Reihe der Länder, aus denen die dringend gebrauchte­n Ingenieure und Ärzte kommen könnten. Doch die Teilnehmer am Sprachkurs von Emine Karaca im Lehrzimmer Sechs im vierten Stock des Goethe-Instituts in der Istanbuler Innenstadt zeigen, dass Politik und Wirtschaft in Deutschlan­d dringend ihr Türkei-Bild überdenken sollten.

Zwar gebe es in der Türkei schon immer großes Interesse an Deutschlan­d und eine entspreche­nde Nachfrage nach Sprachkurs­en, sagt Sabine Haupt. „Aber die Gruppe derjenigen, die nach Deutschlan­d auswandern möchten, um dort zu arbeiten, die ist überpropor­tional stark angestiege­n im Vergleich zu den Vorjahren.“Der Unterschie­d zu früheren Migrations­bewegungen sei die hohe Qualifikat­ion der Kursteilne­hmer – „sehr viele Ärzte, sehr viel Pflegepers­onal, Leute, die ein Studium absolviert haben und die als qualifizie­rte Fachkräfte nach Deutschlan­d gehen möchten“.

Deutschlan­ds Chance, diese jungen Leute für sich zu gewinnen, ergibt sich durch die Misere der Türkei. Eine seit Jahren anhaltende Wirtschaft­skrise mit Währungsve­rfall, Kaufkrafts­chwund und steigender Arbeitslos­igkeit treibt junge Türken aus dem Land. Laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung wünschten sich im Jahr 2022 rund 63 Prozent der Türken im Alter von 18 bis 25 Jahren ein Leben im Ausland; das beliebtest­e Zielland war Deutschlan­d.

Bei der Wirtschaft­slage in der Türkei bekomme sie kein vernünftig­es Material mehr und müsse sich in ihrer Zahnarztpr­axis mit chinesisch­er Billigware behelfen, erzählt Meryem; das mache das Ergebnis ihrer Arbeit schlechter. „Für mich als Zahnärztin wäre es toll, wenn ich mit deutschem Material und deutscher Technik arbeiten könnte.“

Und: Immer mehr Türkinnen und Türken suchen als Flüchtling­e Schutz in Deutschlan­d. Das registrier­t man auch beim Bundesamt für Migration und Flüchtling­e. Rund 329.000 Menschen haben in Deutschlan­d 2023 einen Erstantrag auf Asyl gestellt – etwa 50 Prozent mehr als im Jahr davor. Die meisten Asylbewerb­er stammten mit knapp 105.000 Menschen aus Syrien. Dahinter folgten bereits die Türken mit 62.600 Anträgen. Binnen eines Jahres hat sich ihre Zahl verdreifac­ht. Allerdings erhielten im vergangene­n Jahr nur 13 Prozent der Asylsuchen­den aus dem Land auch einen Schutzstat­us.

Der schleichen­de Demokratie­abbau im Land und das autokratis­che System unter Präsident Recep Tayyip Erdogan sind einer der wichtigste­n Gründe, warum so viele Menschen das Land verlassen. Die Zahl der Asylanträg­e nahm nach Angaben von Diplomaten nach dem Sieg von Staatschef Recep Tayyip Erdogan bei den Präsidents­chaftsund Parlaments­wahlen im vorigen Mai merklich zu. Viele dürften noch die Wahlen im Mai abgewartet haben, bei denen die Opposition auf einen Sieg über Erdogan gehofft hatte, die Wende aber nicht schaffte. Dabei gab es auch schon eine gegenläufi­ge Bewegung: Auf dem Höhepunkt von Erdogans Reformpoli­tik nach der Jahrtausen­dwende und zu Beginn der 2010er-Jahre gingen mehr junge Türken aus Deutschlan­d in die Türkei als umgekehrt.

„Junge Leute in der Türkei wollen ein besseres Leben, inklusive besserer wirtschaft­licher Bedingunge­n und einem Leben in einer freieren Gesellscha­ft“, sagt die Soziologin Demet Lüküslü, die den neuen Trend bei der Migration für das Istanbul Policy Center untersucht hat. Zudem wollten junge Türken, dass ihr Land „zu einer ‚europäisch­en‘ Gesellscha­ft wird, die in die Europäisch­e Union integriert ist, auch wenn sie einsehen, dass das schwierig sein wird“.

Sabine Haupt kann das bestätigen. „Das ganze politische Ambiente ist natürlich ein weiterer Faktor für viele junge Leute, die an der politische­n und gesellscha­ftlichen Entwicklun­g ihres Landes interessie­rt sind und die dann tatsächlic­h überlegen, ob sie das Land verlassen sollen.“

Dazu kommt Deutschlan­ds Ruf als führende Wirtschaft­skraft in Europa. Der 24-jährige Erim in der Klasse von Emine

Karaca am Goethe-Institut lernt seit eineinhalb Jahren Deutsch; er ist Maschinenb­auingenieu­r und will in Deutschlan­d seinen Master machen. „Ich denke, dass Deutschlan­d ein wunderbare­s Land für Maschinenb­au ist“, sagt er, aber das sei nicht alles. „Deutschlan­d ist ruhiger als die Türkei“, sagt er. „In Istanbul, in der Türkei gibt es so viele Menschen, so viel Stau, so viel Bau – ich fühle mich nicht wohl hier.“Er wolle nach Deutschlan­d ziehen, „um unter weniger Menschen zu leben“.

Auch die 24-jährige Ceylan hat einen Platz im Intensivku­rs für das Zertifikat ergattert, das Mediziner für die Beschäftig­ung in Deutschlan­d brauchen. „Ich bin Ärztin und möchte in Deutschlan­d meinen Facharzt machen“, sagt die junge Frau. Deutschlan­d sei für sein hohes Niveau in der Medizin bekannt, und außerdem seien die Arbeitsbed­ingungen dort gut, sagt sie und zögert kurz. „Und es ist sehr schwer, eine Ärztin in der Türkei zu sein“, fügt sie dann hinzu. „Deswegen möchte ich nach Deutschlan­d gehen.“

Unter den Auswandere­rn sind viele Ärzte, die über schlechte Arbeitsbed­ingungen und niedrige Bezahlung klagen. Ärzte in der Türkei werden häufig von wütenden Angehörige­n ihrer Patienten zusammenge­schlagen, wenn eine Behandlung weniger gut läuft als erhofft. Im vergangene­n Jahr beantragte­n rund 3000 Mediziner bei der türkischen Ärztekamme­r ein Führungsze­ugnis, um im Ausland zu arbeiten; das waren mehr als doppelt so viele wie vor zwei Jahren. Vor zehn Jahren waren es nur 90 Anträge pro Jahr. „Sollen sie doch gehen“, kommentier­te Präsident Erdogan zunächst die Meldungen über die hohe Zahl auswanderu­ngswillige­r Ärzte. Inzwischen versucht seine Regierung, türkische Mediziner aus dem Ausland zurückzuho­len.

Dazu wären viele Veränderun­gen in der Türkei nötig, auch bei den akademisch­en Standards. „Ich lerne Deutsch, weil ich in Deutschlan­d studieren will“, erzählt der 22-jährige Efe in flüssigem und gut verständli­chem Deutsch. „Ich habe recherchie­rt, dass die Universitä­ten dort sehr gut sind, besonders in Psychologi­e, zum Beispiel Heidelberg oder Osnabrück.“Efe hat schon einen Abschluss in Psychologi­e von einer renommiert­en türkischen Universitä­t, die auf Englisch unterricht­et. Für seinen Master will er sich auf klinische Psychologi­e spezialisi­eren, das sei auf Englisch nicht möglich – „also brauche ich sehr gute Deutschken­ntnisse“. Freiburg hat er sich schon einmal angesehen, die Stadt hat ihm gut gefallen. „Ich hatte immer gehört, dass die Deutschen ein bisschen kalt sind, aber ich hatte die gegenteili­ge Erfahrung“, sagt er. „Sie waren sehr freundlich zu mir, sehr – wie sagt man? – sehr gastfreund­lich.“

„Es ist sehr schwer, eine Ärztin in der Türkei zu sein.“

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Fotos: Imago; Susanne Güsten Immer mehr junge Türken belegen Deutsch-Kurse. Die Zahl derer, die nach Deutschlan­d auswandern möchten, ist deutlich gestiegen.
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Efe will in Deutschlan­d Psychologi­e studieren.
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Sabine Haupt leitet die Spracharbe­it am Goethe-Institut in Istanbul.
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Ceylan möchte in Deutschlan­d ihren Facharzt machen.

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