Neu-Ulmer Zeitung

Blockade im Repräsenta­ntenhaus ist gelöst

Die US-Abgeordnet­en beschließe­n neue Ukraine-Hilfen. Schon bald könnten erste Waffen an der Front sein. Warum Parlaments­sprecher Mike Johnson nun um seinen Job bangen muss.

- Von Karl Doemens

Washington Mehr als eine Stunde lang hatten die Abgeordnet­en disziplini­ert über unzählige Änderungsa­nträge und Begleitges­etze abgestimmt. Doch als dann um kurz vor zwei Uhr mittags das Ergebnis des Votums zum Paragrafen­werk HR 8035 feststand, wurde es unruhig im amerikanis­chen Repräsenta­ntenhaus.

Viele Demokraten auf der linken Seite des Plenarsaal­s brachen in Jubel aus. Begeistert wedelten sie mit mitgebrach­ten blau-gelben Ukraine-Fähnchen, was ihnen einen Ordnungsru­f des Sitzungsle­iters einbrachte. Auf der rechten Seite aber packte die Abgeordnet­e Marjorie Taylor Greene eilig ihre Sachen und stürmte durch eine Außentür die große Treppe des Kapitols herunter, an deren Fuß mehr als ein Dutzend Reporter warteten. „Sie schwenken Ukraine-Flaggen und machen nichts für die amerikanis­che Bevölkerun­g“, empörte sich die ultrarecht­e Republikan­erin: „Jeder Amerikaner sollte wütend sein.“

Mit einer klaren Mehrheit von 311 zu 112 Stimmen war am Samstag zuvor das Gesetz verabschie­det worden, das 61 Milliarden Dollar neue Ukraine-Hilfen vorsieht. Formal muss noch der Senat zustimmen und Präsident Joe Biden unterschre­iben. Schon am Dienstag könnte es so weit sein. Weil das Pentagon die Waffen und die Munition nicht neu bei Hersteller­n ordert, sondern aus Beständen in den USA und in Europa in die Ukraine schickt, könnten sie bald in der Ukraine eintreffen. Im Verteidigu­ngsministe­rium ist von „wenigen Tagen“die Rede. Der Text dringt zudem auf die Lieferung weittragen­der Raketensys­teme vom Typ ATACMS.

Damit endet eine sechsmonat­ige Hängeparti­e auf dem Washington­er Kapitolshü­gel. Schon im vergangene­n Oktober hatte Präsident Biden ein 118-Milliarden-DollarPake­t vorgelegt, das Hilfen für die Ukraine, Israel und Taiwan sowie auf Drängen der Republikan­er Mittel für die US-Grenzsiche­rung vorsah. Schon im Senat hatte es vier

Monate bis zur Verabschie­dung gedauert, weil die Republikan­er ihre Positionen mehrfach veränderte­n und schließlic­h auf Druck von Ex-Präsident Donald Trump die Grenzgeset­zgebung doch ablehnten, wodurch das Paket auf 95 Milliarden Dollar schrumpfte.

Im mehrheitli­ch republikan­ischen Repräsenta­ntenhaus schien das Vorhaben monatelang sabotiert zu werden, bis der republikan­ische Parlaments­chef Mike Johnson in der vergangene­n Woche einen überrasche­nden Vorstoß unternahm. Er zerlegte das Paket in drei Einzelteil­e – Militärhil­fen für die Ukraine, für Israel (plus humanitäre Unterstütz­ung unter anderem für Gaza) und Taiwan – und stellte dem zwei weitere GesetzesUk­raine entwürfe zur Seite: Der eine soll den chinesisch­en Konzern Bytedance zwingen, seine amerikanis­che Tiktok-Tochter zu verkaufen.

Der andere sieht eine extreme Einschränk­ung des Asylrechts vor.

Über die Motive des Speakers, der nach dem Sturz seines Vorgängers Kevin McCarthy von ultrarecht­en Hardlinern ins Amt gebracht wurde, kann nur gerätselt werden. Angeblich hatten ihn Berichte von US-Geheimdien­sten über die dramatisch­e Lage in der

beeindruck­t. Gut möglich ist aber auch, dass Johnson, dessen Mehrheit auf eine Stimme geschrumpf­t ist, fürchtete, bei einer von den Demokraten erzwungene­n Kampfabsti­mmung überstimmt und damit entmachtet zu werden. Jedenfalls informiert­e er bei einem Besuch in Mar-a-Lago den ParteiPate­n über seinen raffiniert­en Plan, der unterschie­dliche Mehrheiten bei den einzelnen Bestandtei­len des Pakets erlaubte. Donald Trump hielt sich alle Optionen offen: „Wir werden sehen, wie das ausgeht“, sagte er.

Johnsons Kalkül ging auf: Zwar stimmten nicht einmal die Hälfte seiner Republikan­er für die Ukraine-Unterstütz­ung. Doch dank der Stimmen der Demokraten nahm das Gesetz wie auch die Hilfen für Israel und Taiwan sowie das Tiktok-Gesetz die parlamenta­rische Hürde. Im Unterschie­d zur Senatsvorl­age soll nun ein Teil der Ukraine-Hilfen als Darlehen gezahlt werden. Das Tiktok-Gesetz ist für die Demokraten, die jüngere AppNutzer vor der Wahl nicht verärgern wollen, heikel. Trotzdem scheint die Mehrheit sicher. Die Asylreform, die von Johnson wohl eher als rechtspopu­listischer Schauantra­g gedacht war, scheiterte schon im Repräsenta­ntenhaus.

Während sich der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits Minuten nach der Verabschie­dung für die neuen Hilfen bedankte und Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g von einem Zugewinn an Sicherheit für Europa und Nordamerik­a sprach, reagierte Dmitri Poljanski, der russische Vize-Botschafte­r bei den Vereinten Nationen, mit scharfen Worten: „Es gibt nichts zu feiern. Das unrühmlich­e Ende des Kiewer Regimes ist unausweich­lich.“

Westliche Militärexp­erten erwarten nun eine Zunahme russischer Raketen- und Drohnenang­riffe in den kommenden Wochen. Russland werde die aktuellen materielle­n und personelle­n Einschränk­ungen des ukrainisch­en Militärs und den ungewöhnli­ch trockenen Frühling ausnutzen, bis sich das Fenster schließe und die US-Hilfe tatsächlic­h eintreffe, hieß es in einer Analyse des US-Instituts für Kriegsstud­ien (ISW) in Washington.

Derweil muss Speaker Johnson eine Revolte der ultrarecht­en Hardliner seiner Fraktion fürchten. „Das ist der dritte Betrug des Mike Johnson“, wetterte Greene vor dem Kapitol. Ihr Antrag auf Abwahl des Parlaments­chefs wird bislang von zwei Kollegen mitgetrage­n. Greene ist überzeugt, dass die Unterstütz­ung während der Heimatbesu­che der Abgeordnet­en in der nun beginnende­n sitzungsfr­eien Woche deutlich wachsen wird.

Schon bei der nächsten Parlaments­sitzung am 29. April könnte sie eine Abstimmung über den Misstrauen­santrag erzwingen.

Militärexp­erten erwarten Zunahme russischer Angriffe.

 ?? Foto: J. Scott Applewhite, AP/dpa ?? Der Vorsitzend­e des Repräsenta­ntenhauses, Mike Johnson, verteidigt­e den Kompromiss. Er steht nun selbst unter Druck.
Foto: J. Scott Applewhite, AP/dpa Der Vorsitzend­e des Repräsenta­ntenhauses, Mike Johnson, verteidigt­e den Kompromiss. Er steht nun selbst unter Druck.

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