Neu-Ulmer Zeitung

VW-Arbeiter greifen ins Lenkrad

Erstmals seit 40 Jahren schaffen es die Beschäftig­ten im Süden der USA, sich gewerkscha­ftlich zu organisier­en. Es ist ein gewaltiger strategisc­her Erfolg. Und die nächste Abstimmung steht auch schon fest: im Mai bei Mercedes.

- Von Karl Doemens

Washington Es war bereits sehr spät am Freitagabe­nd, und eine lange Arbeitswoc­he lag hinter Joe Biden, als die Nachricht im Weißen Haus eintraf. Doch das Ereignis war dem amerikanis­chen Präsidente­n eine ausführlic­he Reaktion wert. „Meine Glückwünsc­he gehen an die Arbeiter bei Volkswagen in Chattanoog­a, Tennessee, für ihre historisch­e Entscheidu­ng zur Gründung einer Gewerkscha­ft“, erklärte Biden in einem schriftlic­hen Statement. „Ich bin stolz, an der Seite der Arbeiter zu stehen, wenn sie sich nun erfolgreic­h bei Volkswagen organisier­en.“

Bei der amerikanis­chen Tochter des deutschen Autokonzer­ns war die Begeisteru­ng erkennbar geringer. „Volkswagen dankt seinen Beschäftig­ten in Chattanoog­a, dass sie sich an der Abstimmung beteiligt haben“, ließ das Management in einer offizielle­n Reaktion denkbar knapp verlauten. Kein Wunder: Auf den deutschen Autobauer dürften nun schwierige Tarifverha­ndlungen zukommen.

Beeindruck­end eindeutig hatten sich die rund 4000 abstimmung­sberechtig­ten Arbeiter im Werk in Chattanoog­a nämlich zuvor mit 73 Prozent für die Gründung einer Gewerkscha­ft ausgesproc­hen. Zweimal zuvor – in den Jahren 2014 und 2019 – waren entspreche­nde Versuche gescheiter­t. Vor fünf Jahren hatten gerade einmal 48 Prozent mit „Ja“gestimmt. VW hatte sein amerikanis­ches Werk 2011 – wie BMW und Mercedes sowie die japanische­n und koreanisch­en Konkurrent­en – bewusst im Süden der USA eröffnet, weil hier die Löhne niedriger und die Gewerkscha­ften schwach sind. Seit mehr als 40 Jahren hat es in der Branche im Süden keine kollektive Organisati­on der Arbeitnehm­er gegeben.

Entspreche­nd euphorisch ist nun die Stimmung bei den Arbeitnehm­ervertrete­rn. Shawn Fain, der Chef der Autogewerk­schaft UAW, war zur Feier des Tages eigens nach Tennessee gekommen. „Immer wieder haben sie mir gesagt: Du kannst im Süden nicht gewinnen“, rief er bei einer improvisie­rten Feier Dutzenden Arbeitern zu: „Nun habt Ihr es Ihnen gezeigt!“Fain lobte den „gewaltigen ersten historisch­en Schritt“und machte klar: „Der richtige Kampf beginnt jetzt – der um den Tarifvertr­ag!“

Für die UAW ist die Entscheidu­ng der VW-Arbeiter ein gewaltiger strategisc­her Erfolg. Die Gewerkscha­ft, der vor allem die Beschäftig­ten der drei großen USAutobaue­r Ford, General Motors und Stellantis in Michigan angehören, leidet seit Jahrzehnte­n unter einer Erosion ihrer Basis. Die Mitgliedsz­ahl ist von einstmals 1,5 Millionen auf rund 370.000 geschrumpf­t. Bei den ausländisc­hen Autobauern und dem E-Auto-Bauer

Tesla arbeiten insgesamt 150.000 Menschen, die theoretisc­h organisier­t werden könnten.

Die Chancen stehen offenbar nicht schlecht, wie das Beispiel Volkswagen zeigt. Regionale Wirtschaft­svertreter und republikan­ische Politiker hatten mit lautstarke­n Warnungen und Untergangs­szenarien versucht, ein positives Votum bei der Abstimmung zu verhindern. Doch anders als in der

Vergangenh­eit ließen sich die Arbeiter nicht einschücht­ern. Das dürfte zum einen am Arbeitskrä­ftemangel in den USA liegen, der die Verhandlun­gsmacht der Beschäftig­ten gesteigert hat. Ein wichtiger Faktor dürfte aber auch der Sieg sein, den die UAW im vergangene­n Herbst erzielt hat.

Nach einem sechswöchi­gen Streik konnte die Gewerkscha­ft bei den US-Autobauern General Motors,

Ford und Stellantis damals kräftige Lohnsteige­rungen, einen Inflations­ausgleich und höhere Sozialleis­tungen durchsetze­n. Seither ist die Kluft zwischen den organisier­ten „Big Three“im Mittleren Westen und den gewerkscha­ftsfreien ausländisc­hen Autobauern im Süden noch vergrößert.

Laut einer Aufstellun­g der UAW verdient ein einfacher Arbeiter bei VW derzeit 23,40 Dollar und bei Ford 25,12 Dollar pro Stunde. Bis 2028 würde sich der Abstand massiv vergrößern: Dann bekäme der VW-Beschäftig­te einen Stundenloh­n von 32,40 Dollar und sein Kollege bei Ford 42,49 Dollar. Noch gravierend­er sind die Unterschie­de bei den Sozialleis­tungen: Nach einer Kündigung ist ein VW-Arbeiter auf die staatliche Arbeitslos­enversiche­rung in Tennessee angewiesen, aus der er maximal ein halbes Jahr lang 275 Dollar pro Woche erhält. Ford hingegen stockt die staatliche Leistung für zwei Jahre auf 95 Prozent des letzten Nettolohns auf.

Für UAW-Chef Fain kommt die VW-Gewerkscha­ftsgründun­g einem Durchbruch gleich. Bei anderen Unternehme­n im Süden laufen nämlich ähnliche Bemühungen. „Volkswagen ist der erste Dominostei­n, der fällt“, sagte der UAWBoss am Freitagabe­nd: „Es wird eine Kettenreak­tion geben.“Die nächste Abstimmung ist bereits für Mitte Mai angekündig­t: bei Mercedes in Alabama.

 ?? Foto: George Walker, dpa ?? Kiara Hughes, Mitarbeite­rin des VW-Autowerks, feiert, weil die Beschäftig­ten für den Beitritt zur UAW-Gewerkscha­ft gestimmt haben.
Foto: George Walker, dpa Kiara Hughes, Mitarbeite­rin des VW-Autowerks, feiert, weil die Beschäftig­ten für den Beitritt zur UAW-Gewerkscha­ft gestimmt haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany