Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (18)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Karline war das zweitälteste Kind, und weil man auf einen Karl gehofft hatte, erhielt sie einen Namen, den auszufüllen ihr einiges an Mühe bereitete. Es gab keine Vorbilder für ein Leben als Karline. Ihre ungarische Gouvernante hatte sie, wenn sie wütend war, Károly genannt. Sie konnte sich an das Rascheln des Damastkleides erinnern, an den kühlen Geruch von Jasmin und Pfefferminze und das Lispeln, das ihre Gouvernante zu beherrschen versuchte – erfolglos, wenn sie erregt war, was ihr eine gewisse Hilflosigkeit verlieh. Karline hatte Genugtuung in diesen Momenten empfunden. Die gegen die Vorderzähne schlagende Zunge war eine angemessene Strafe für die Verkehrung ihres Namens ins ungarische Maskulin.
Ihr erster Freund hatte eine englische Mutter und verfiel irgendwann auf den Einfall, sie Charlie zu nennen. Diesen Klang mochte sie, sie mochte ihn sogar sehr. Noch heute, wenn sie, was allerdings immer seltener wurde, ein gewisses Einverständnis mit ihrem Spiegelbild empfand, wenn die Haut nach dem Baden weich war, die Falten um die Augen geglättet und Wasserdampf das Grau ihrer Haare verhüllte, dann nannte sie sich in Gedanken Charlie, schloss die Augen und strich mit den Fingerspitzen über den Hals, so wie Ernest es getan hatte, langsam, mit einer Selbstvergessenheit, die jede Berührung umso köstlicher machte was die meisten Männer ihr Leben lang nicht begriffen. Eine zu frühe
Absicht der Berührung tötete jede Sinnlichkeit. Karline war froh, zumindest einmal in ihrem Leben eine Ahnung davon erhalten zu haben.
Dergestalt gestärkt von Erinnerungen ließ sich der Alltag wieder eine Weile ertragen. Eine Woche voller: Line, kommst du mal. Line, jemand ist an der Tür. Line, der Aufboden ist unordentlich. Line, ich finde meine Sachen nicht. Manchmal wünschte sie sich das „Line“am Ende ihres Namens fort, das – nicht das energische Károly oder zärtliche Charlie – ihr Spitzname geworden war. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wäre der sehnlichste Wunsch ihrer Mutter in Erfüllung gegangen? Wie wäre es gewesen, hätte ein Karl dem König die Hand gegeben?
Nein, dem König wollte sie nur als Frau die Hand gegeben haben. Es war einer der Augenblicke, in dem es sich auszahlte, eine Frau zu sein.
Karline lehnte an der Tür der Sommerküche. Sie hatte das Geschirr
versorgt, die Herdplatten gereinigt, das Tischtuch abgezogen. Johann war unterdessen in der Laube eingeschlafen. Ein Schmetterling nahm seinen Bauch als Hügel. Er war dicker, als ein Mensch in dieser Zeit sein sollte, dachte sie. Wer Groll hegt, schluckt Gift und erwartet, dass der andere stirbt – und doch ärgerte sie sich Tag für Tag über Johann, dessen Handlungen und Unterlassungen ein ständiger Unterstrom an Ärger für sie waren. Das Schweigen, das er ihr entgegenbrachte, war wie ein letzter Beweis, dass auch ihm das abhandengekommen war, was sie einmal Liebe genannt hatten.
Zum Glück besaß Karline die Gabe, sich auf andere Gedanken zu bringen. Sie konnte schon vor dem Frühstück an sechs nahezu unmögliche Dinge glauben. Erstens: Johann würde sich ändern. Zweitens: zum Besseren. Drittens: In der Zeitung würde ausnahmsweise einmal etwas Gescheites stehen. Viertens: Sie würde ein Mittel gegen ihre Krampfadern finden.
Fünftens: Jemand würde ein Mittel gegen den Kommunismus finden. Sechstens: Eines Tages würde die Monarchie wieder eingeführt werden.
Sie jedenfalls wäre bereit. Karline löste ihre Schürze, schloss die Sommerküche. Kein Laut drang aus den Gärten, von der Straße, niemand ging spazieren, unterhielt sich, musizierte. Kein Springseil sirrte durch die Luft, kein Ball flog gegen eine Mauer. Die Stille des frühen Nachmittags hatte mit einem Mal etwas Bodenloses. Sollte sie sich in die Laube setzen, auf dem Fotell ausstrecken? Mit der Bügelwäsche anfangen?
Sie beschloss, nach dem Jungen zu sehen. Er musste ein Bad nehmen, bevor sein Vater kam. Karline ging ums Haus, die Stiegen hinauf, durchs Vorzimmer in die Hauptwohnung. Sie schloss eine Schranktür, die sich immer von selbst öffnete, zog einen Vorhang gerade, rief seinen Namen. Er antwortete nicht. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer, doch er saß weder auf dem Lesesessel noch am Tisch bei seinen Schulbüchern. Auch die Küche war leer.
Karline klappte die Fensterläden zu, damit die Hitze nicht ins Haus kam. Dabei dachte sie an den Ausflug, der ihr einmal wieder die Gelegenheit verschafft hatte, ihren Sonnenschirm auszuführen. Zweifellos gehörten zum Leben gewisse legitime Annehmlichkeiten. Dazu zählte ein eleganter Morgenmantel, mit Zimt und Kaffeebohnen angesetzter Nusslikör und im Ruderboot mit Sonnenschirm über den Fischteich dahinzugleiten – während anderen unter der prallen Sonne der Schweiß hinunterrann. Jeder nach seiner Fasson.
Karline hatte ein knöchellanges, geblümtes Kleid getragen, das so lange schon aus der Mode war, dass man es als zeitlos bezeichnen konnte. Sie kleidete ihren Enkel sorgfältig an, bedauernd, dass er noch nicht alt genug war, um Hut zu tragen. 19. Fortsetzung folgt