Neu-Ulmer Zeitung

Tiktok beschleuni­gt die Radikalisi­erung

Studien zeigen: Junge Menschen wenden sich verstärkt der AfD zu. Woran liegt das? Eva Berendsen von der Bildungsst­ätte Anne Frank sieht den Grund vor allem in den sozialen Medien.

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Frau Berendsen, an diesem Dienstag erscheint die jüngste Ausgabe der Trendstudi­e „Jugend in Deutschlan­d“. Darin beschreibe­n die Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler einen zunehmende­n Rechtsruck unter Jugendlich­en in Deutschlan­d. Ist das eine Entwicklun­g, die auch Sie beobachten?

Eva Berendsen: Ja, definitiv. Das ist ein Trend, den wir schon länger mit Sorge verfolgen und der sich auch bei den zurücklieg­enden Wahlen bestätigt hat. In Bayern beispielsw­eise stimmten besonders viele Jungwähler­innen und -wähler für die AfD. In Hessen, wo am selben Tag gewählt wurde, war das Bild ähnlich. Trotzdem sind auch wir immer wieder überrascht von diesen Ergebnisse­n. Denn im öffentlich­en Diskurs werden junge Menschen als links und „woke“wahrgenomm­en.

Woher kommt also dieser Rechtsruck bei jungen Menschen? Berendsen: Dafür gibt es verschiede­ne Gründe. Was uns aber immer wieder auffällt: Die AfD und andere rechte Akteure sind besonders erfolgreic­h in den sozialen Medien. Auf Plattforme­n also, wo junge Menschen viel Zeit verbringen. Im Vergleich zu anderen Parteien hat die AfD das Potenzial dieser Medien früh erkannt. Ihre Mitglieder waren immer schnell auf neuen Plattforme­n präsent und aktiv – schneller zumindest, als andere Parteien. Das hat sie sich abgeschaut von der neuen Rechten in den USA, die Donald Trump groß gemacht hat.

Nun ist Social Media inzwischen ein breites Feld. Welche Plattforme­n nutzt die AfD denn, um junge Menschen zu erreichen? Berendsen: Wir nehmen an, dass dabei vor allem Tiktok eine große Rolle spielt – und zwar aus zwei Gründen. Erstens: Auf der Plattform

sind besonders viele junge Menschen aktiv. Und zweitens: Tiktok ist stark algorithmi­sch getrieben. Das sehen wir etwa im Zusammenha­ng mit dem Nahostkonf­likt. Sobald man sich ein israelfein­dliches Video bis zum Ende ansieht, werden dem Nutzer oder der Nutzerin immer mehr solcher Videos angezeigt – viele mit antisemiti­schen Aussagen und Verschwöru­ngserzählu­ngen. Junge Menschen kommen schnell in eine politisch eindimensi­onale Blase, in der es keine Gegenrede mehr gibt und man sich nur noch gegenseiti­g bestärkt, der Algorithmu­s erzeugt einen Radikalisi­erungstunn­el.

Sie haben einen Report vorgestell­t, in dem Sie untersucht haben, wie sich antisemiti­sche Inhalte auf Tiktok verbreiten, und haben dabei auch mit Lehrkräfte­n und Eltern gesprochen. Wie nehmen sie diese Entwicklun­g wahr? Berendsen: Für viele Eltern und Lehrkräfte ist das eine enorme Herausford­erung. Dass junge Menschen auch radikale Ansichten vertreten, ist nicht unbedingt neu. Aber die Geschwindi­gkeit ist eine andere. Viele erleben bei ihren Kindern eine Art Speed-Radikalisi­erung.

Wie meinen Sie das?

Berendsen: Lehrerinne­n und Lehrer berichten, dass Kinder, die sich bisher nicht für Politik oder speziell den Nahostkonf­likt interessie­rt haben, plötzlich radikale Parolen und antisemiti­sche Narrative auf dem Schulhof verbreiten. Wenn sie dann nachfragen: Wo hast du das denn jetzt her? Dann ist die Antwort meist: von Tiktok.

Das Problem beschäftig­t auch die Politik. In den USA prüft man ein Tiktok-Verbot und am Montag wurde bekannt, dass die EU-Kommission erneut ein Verfahren gegen die Plattform eröffnen will. Der Vorwurf: Tiktok schädige die

Psyche junger Menschen. Wird genug getan?

Berendsen: Es braucht einen Ruck in zentralen Stellen unserer Gesellscha­ft, diese Plattform ernstzuneh­men. In den Schulen zum Beispiel müsste die Medienpäda­gogik viel ernster genommen werden. Es braucht mehr Bildungsco­ntent auf der Plattform. Auch Medienhäus­er müssten die Plattform viel stärker bespielen. Aber natürlich sehe ich auch Tiktok selbst in der Pflicht.

Weil sie radikale Inhalte zu selten löschen?

Berendsen: Genau. Aktuell verlässt Tiktok sich noch viel zu sehr auf automatisi­erte Programme, die nach bestimmten Wörtern suchen, entspreche­nd rechtswidr­ige Inhalte filtern und löschen. Aber die rechte Community weiß solche Filter zu umgehen, beispielsw­eise durch Codewörter oder Symbole. Da drückt sich der Hass in bestimmten Emoji-Kombinatio­nen aus. Um das zu unterbinde­n, muss politisch mehr Druck kommen. Tiktok hat ja keine Pflicht zur Wahrheit, wie es beispielsw­eise bei Zeitungsve­rlagen der Fall ist. Wenn der Plattform ein rechtswidr­iger Inhalt gemeldet wird, müssen sie das zwar löschen. Nur ist es dann meist schon zu spät, weil das Video längst tausendfac­h gesehen, geliked und geteilt wurde.

Interview: Jonathan Lindenmaie­r

Zur Person

Eva Berendsen ist Politikwis­senschaftl­erin und leitet die Abteilung „Politische Bildung im Netz“bei der Bildungsst­ätte Anne Frank. Sie ist Herausgebe­rin mehrerer Bücher und Mit-Autorin der Studie „Die TiktokInti­fada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz“.

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Foto: wachiwit, stock.adobe.com; Felix Schmitt „Viele erleben bei ihren Kindern eine Art Speed-Radikalisi­erung“, sagt die Expertin.
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