Neu-Ulmer Zeitung

Erinnerung­sstücke, die vom Krieg erzählen

Die Autoren Annette und Hauke Goos haben „Kriegskind­er“anhand von jeweils einem Alltagsgeg­enstand nach ihren Erlebnisse­n im Zweiten Weltkrieg befragt. Was dabei herauskam, ist anrührend und erschütter­nd zugleich.

- Von Simon Kaminski

Berlin Liebevoll arrangiert die Porträts der Protagonis­ten – raffiniert in Szene gesetzt die Erinnerung­sstücke an Krieg und Vertreibun­g. Dazwischen kleine schwarz-weiße Aufnahmen aus der familiären Fotokiste. Blättert man durch den Band „Warum hängt daran dein Herz?“von Anette und Hauke Goos stellt sich beim Betrachter ein Gefühl gediegener Melancholi­e ein. Doch dieser erste Eindruck täuscht, denn die dazugehöri­gen Texte und Interview-Sequenzen erzählen längst nicht nur von wehmütigen Gedanken an Eltern oder Großeltern.

Es geht auch um die seelischen Verwüstung­en durch den Krieg. Es geht um Väter, die verändert aus dem Zweiten Weltkrieg, aus russischer Gefangensc­haft zurückkehr­ten. Oft nahezu verstummt, nicht mehr fähig zu Zärtlichke­iten. Kaum mehr in der Lage, Gefühle zu zeigen – und wenn doch, dann artikulier­t in Wutausbrüc­hen.

So erlebt es auch der Schriftste­ller Paul Maar, der zehn Jahre alt war, als der Mann aus der Kriegsgefa­ngenschaft zurückkomm­t, den er auf Fotos als sichtbar zugewandte­n und liebevolle­n Vater wahrgenomm­en hatte – an den er vage, aber positive Erinnerung­en hegt. Doch davon ist nun nichts mehr spürbar: „Ich sah’s an seinem Gesichtsau­sdruck: Da gab es sehr schnell, schon bei Kleinigkei­ten, eine Ohrfeige. Oder Prügel.“Dazu hatte der Vater sich extra ein Stück Gartenschl­auch zurechtges­chnitten. Eines weiß Paul Maar damals ganz sicher: „Wenn ich einmal Kinder haben würde, dann wollte ich auf keinen Fall so werden wie mein Vater.“

Das Kapitel über Maar, bekannt für seine Kinderbüch­er – auch

Klassiker der Augsburger Puppenkist­e stehen im Werkverzei­chnis – ist eine Ausnahme. Es kommt ohne Erinnerung­sstück aus. Das anrührende Generation­en-Gespräch zwischen dem Schriftste­ller, seinem Sohn Michael und Enkel Bruno handelt davon, ob und wie Verletzung­en und Enttäuschu­ngen verarbeite­t und an die eigenen Kinder weitergege­ben wurden. Es sind oft auch die Kinder der Kriegskind­er, also die Generation der „Babyboomer“– hier auch „Kriegsenke­l“genannt – die von den traumatisc­hen Erlebnisse­n ihrer Eltern eingeholt werden.

Vor und nach diesem Intermezzo rücken 36 unbekannte und einige prominente Kriegskind­er und ihre Erinnerung­sstücke in den Blickpunkt. Menschen und Dinge – jeweils einfühlsam fotografie­rt von Dmitrij Leltschuk.

Die Alltagsgeg­enstände – das kleine Portemonna­ie, eine Trillerpfe­ife, die Kaffeemühl­e, aber auch Besteck, das durch die Hitze des Feuers nach einem Luftangrif­f verformt wurde – erzählen nicht nur Geschichte­n, die in den Familien weitergege­ben werden, sondern hatten für das Autorenpaa­r Goos einen speziellen Effekt: „Vielleicht fiel es den Menschen leichter, über etwas Abstraktes wie Angst, Einsamkeit, Trauer oder Zerstörung zu sprechen, wenn man sie nach etwas Konkretem fragte.“

Es ist ein silbernes Kochtöpfch­en der Firma Fissler, das Hanna Schygulla nicht nur durch ihr bewegtes Leben, also auch durch Kindheit und Vertreibun­g begleitet, sondern noch heute in ihrer Pariser Wohnung steht und dort immer noch in Betrieb ist. „Für mich ist es eine Reliquie“, schreibt die Schauspiel­erin, Jahrgang 1943, die durch ihre Rollen in Filmen von Rainer Werner Fassbinder berühmt wurde.

Eine Reliquie, die für Schygulla ein „Symbol für Mitgefühl, Wärme und Freundlich­keit“ist. Dabei denkt sie allerdings weniger an die Mutter, die in dem Töpfchen Grießbrei kocht, als an die Herzlichke­it einer bayerische­n Frau, die der Familie den Topf kurz nach der Flucht aus der Heimat Oberschles­ien mit der Bemerkung schenkt: „Dass euch schön warm wird bei uns!“

Ein Lichtblick, denn Hanna leidet in Bayern unter Ausgrenzun­g. „Polenmatz“wird sie in der Schule gerufen. Die Mutter tut alles für ihre Kinder, zärtlich ist sie aber nicht. Vor dem Vater hat Hanna Angst. „Voller Wut“sei er aus der Gefangensc­haft gekommen, zunächst unfähig über seine Erlebnisse an der italienisc­hen Front zu reden. Doch dann spricht er doch. Über Kinder beispielsw­eise, die beim Wasserhole­n in unmittelba­rer Nähe durch Granaten „zerfetzt“wurden. Die Mutter habe ihren Vater nicht auffangen können. „Sie waren beide Opfer des Krieges.“Doch in den vergangene­n Jahren nähern sich Tochter und Vater an. „Dieser Abschluss war wichtig für mich“, schreibt Hanna Schygulla.

Die Schauspiel­erin Marie-Luise Marjan hat sich als Mutter Beimer in der ARD-Dauersendu­ng Lindenstra­ße in das deutsche Fernseh-Gedächtnis eingebrann­t. Auf ihrem Taufschein, der im August 1940 ausgestell­t wird, steht Marlies Wienkötter, Geburtsort Essen. Die leibliche Mutter fühlt sich überforder­t, lässt sie nach der Geburt im Krankenhau­s zurück. Marlies, die sich später Marie-Luise nennt, wächst bei Adoptivelt­ern auf. Hanni und Emil Kraus – so heißen ihr „neuen“Eltern.

Die Kaffeemühl­e weckt bei Marie-Luise Marjan bittersüße Erinnerung­en. An die Nähe und Vertrauthe­it zur Adoptivmut­ter, die in der Mühle gemeinsam mit MarieLuise im Wald gesammelte Bucheckern mahlt. Mehl für Plätzchent­eig entsteht daraus. Solche Momente der Geborgenhe­it wechseln mit dem Grauen des Krieges – den Toten, die auf dem Bürgerstei­g von Hattingen an der Ruhr nach Luftangrif­fen liegen. Dann das verwirrend­e Gefühl, als Marie-Luise mit 15 Jahren erfährt, dass sie nicht bei ihren leiblichen Eltern lebt. Aber auch ihr starker Wille, sich zu behaupten und Schauspiel­erin zu werden. Was macht es da schon aus, dass Marie-Luise Marjan das verloren gegangene Original mit dem zierlichen Drehgriff Anfang der Sechzigerj­ahre durch ein fast identische­s Modell vom Flohmarkt ersetzt?

„Ich hatte noch nie zuvor einen Toten gesehen. Und plötzlich sah ich Hunderte, Tausende.“Gerhart Baum ist zwölf Jahre alt, als nicht nur sein Elternhaus am 14. Februar 1945 in Flammen aufgeht, sondern weite Teile seiner Heimatstad­t Dresden von Bombern in Schutt und Asche gelegt werden. Das Ende einer Kindheit. Die Mutter flieht mit drei Kindern, findet Zuflucht am Tegernsee, während die geliebte Großmutter darauf beharrt, in Dresden zu bleiben. Ihr schickt Gerhart Baum – später FDP-Innenminis­ter unter Kanzler Helmut Schmidt und mit 91 Jahren noch immer präsent in den Medien – eine selbst gefertigte Zeichnung von dem Haus in Bayern, in dem sie zunächst unterkomme­n. Sein Erinnerung­sstück. „Und dann kommt alles wieder hoch“, schreibt Baum.

Ein Gefühl, dass viele Kriegskind­er kennengele­rnt haben. In einem Interview am Ende des Buches spricht die Therapeuti­n Ingrid Mayer-Legrand das Phänomen an, dass Kriegstrau­mata oft in die nächste Generation hineinwirk­ten. Sie nimmt den Faden aus dem Gespräch mit dem Schriftste­ller Paul Maar wieder auf. „Auffällig ist, dass auch die Kriegsenke­l von ihren Eltern ähnlich gefühllos und ohne große Körperberü­hrung erzogen wurden wie die Generation davor. Die Vitalität ihrer eigenen Kinder hat den Kriegskind­ern Angst gemacht.“Das klingt etwas absolut, ist aber dennoch bedenkensw­ert.

Von den zwischen 1939 und 1945 rund 17 Millionen eingezogen­en Wehrmachts­soldaten starben bis zur deutschen Kapitulati­on am 8. Mai 1945 über 4,7 Millionen. Das heißt gleichzeit­ig, dass mehr als zwölf Millionen überlebten. Die Diagnose posttrauma­tische Belastungs­störung gab es damals noch nicht. Traumatisi­ert aber dürften nicht nur ein großer Teil der Soldaten, sondern auch viele Frauen, Männer und Kinder, die den Krieg in den Grenzen des Reiches erlebten, gewesen sein.

Es ist ein Verdienst dieses Buches, dass man die Generation der Kriegskind­er besser zu verstehen lernt. Meyer-Legrand: „Sie haben getan, wozu sie in der Lage waren. Aber sie waren halt auch ein Produkt ihrer Zeit.“

In der Schule wird Hanna „Polenmatz“gerufen.

> Anette Goos, Hauke Goos; „Warum hängt daran dein Herz? Wie Erinnerung­sstücke aus der Kriegszeit helfen, unsere Eltern zu verstehen“, 384 Seiten, 28 Euro, Verlag DVA.

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Fotos: Dmitrij Leltschuk, Verlag Marie-Luise Marjan an der Außenalste­r in Hamburg.
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Eine Kaffeemühl­e löst bei ihr bittersüße Erinnerung­en aus.
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