Neu-Ulmer Zeitung

Europa gibt sich neue Schuldenre­geln

Nach langer Debatte entstand ein Kompromiss zu neuen Vorgaben für Haushaltsd­efizite und Staatsschu­lden. Der ist allerdings alles andere als unumstritt­en. Bislang hielt sich kaum ein Land an die Vorschrift­en.

- Von Katrin Pribyl

Brüssel Im Brüsseler Betrieb sind die Mitarbeite­r wenig Schlaf gewohnt. Aber kaum eine Nachtschic­ht wurde als so bedeutend eingestuft wie jene Mitte Februar, als sich Unterhändl­er des EU-Parlaments und der 27 Mitgliedst­aaten auf neue Schuldenre­geln und damit eines der wichtigste­n Projekte der Union einigten – in letzter Minute.

Am Dienstag stimmte nun auch das EU-Parlament ab über den Stabilität­s- und Wachstumsp­akt. Demnach soll bei EU-Zielvorgab­en für den Abbau zu hoher Defizite und Schulden die individuel­le Lage von Ländern stärker berücksich­tigt werden. Anders gesagt: Europa kapitulier­t gewisserma­ßen vor der Realität. Künftig gilt das Motto: Mehr Spielraum, dafür aber auch mehr Härte.

Das bisherige Regelwerk zur Überwachun­g und Durchsetzu­ng der Vorgaben für Schulden wird von Kritikern seit Langem als zu komplizier­t und zu streng angesehen. In Zukunft soll es neue individuel­l verhandelt­e Schuldenab­baupläne über eine Laufzeit von vier oder fünf Jahren, abhängig von der Dauer der Legislatur­periode, für jeden einzelnen Mitgliedst­aat geben. Damit will die Gemeinscha­ft Rücksicht nehmen auf die enormen Schwankung­sbreiten zwischen den Euro-Staaten.

Für hoch verschulde­te Länder soll es zugleich Mindestanf­orderungen für den Defizitabb­au geben. Damit sind vorneweg Griechenla­nd, Italien und Frankreich gemeint, deren Staatsvers­chuldung jüngst auf fast 111 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es (BIP) gestiegen war. Konkret heißt das: Hoch verschulde­te Länder (Schuldenst­and von über 90 Prozent) sollen ihre Schuldenqu­ote jährlich um einen Prozentpun­kt senken müssen, Länder mit Schuldenst­änden zwischen 60 und 90 Prozent um 0,5 Prozentpun­kte. Auf diese Bedingung hatte vor allem Deutschlan­d gepocht.

Derweil bleiben die Kernkriter­ien des Stabilität­s-Paktes unveränder­t. Die jährliche Neuverschu­ldung eines Staates darf drei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es (BIP) nicht überschrei­ten. Die Gesamtvers­chuldung eines Landes soll zudem bei höchstens 60 Prozent liegen. Nur räumt die EU den Ländern eben mehr Flexibilit­ät ein, die individuel­le Situation wird stärker als bislang berücksich­tigt. Staaten, die extreme Schulden haben, erhalten etwa mehr Zeit, um ihre Schulden zu senken und das Defizit-Ziel zu erreichen.

„Wir kehren endlich auf den Pfad der Stabilität zurück“, sagte der CSU-Europaabge­ordnete Markus Ferber. Er lobte, dass der Fokus nun stärker auf das Nettoausga­ben-Wachstum gelegt werde, sodass Probleme wie in der Vergangenh­eit mit Griechenla­nd früher angegangen werden können. Denn: „Man kommt schneller darauf, wenn etwas schiefläuf­t“, so Ferber. Gleichwohl ist der CSU-Politiker nicht mit allen Kompromiss­en einverstan­den: „Dadurch, dass die Kommission individuel­le Vereinbaru­ngen mit den Mitgliedst­aaten schließt, gibt es einen großen Verhandlun­gsspielrau­m.“Man habe die Sorge, „dass Gleiches nicht in allen Mitgliedst­aaten am Ende gleich bewertet wird“, sagte Ferber und erinnerte an das berühmte Zitat des ehemaligen Kommission­spräsident­en Jean-Claude Juncker: „Frankreich wird nicht sanktionie­rt, weil es Frankreich ist.“

Linke, Grüne und Teile der Sozialdemo­kraten warnten dagegen vor einer übertriebe­nen Sparpoliti­k. So kritisiert­e etwa der Sprecher der deutschen Grünen, Rasmus Andresen, die neuen Schuldenre­geln als „zukunftsfe­indlich“. Die Infrastruk­tur in Europa wie etwa die Schienenne­tze seien in einem „katastroph­alen Zustand“. Deshalb forderte er die Mitgliedst­aaten auf, in die Sicherheit und klimagerec­hte Infrastruk­tur zu investiere­n, andernfall­s verliere Europa an Wettbewerb­sfähigkeit.

Nun passiere jedoch laut Andresen das Gegenteil: „Konservati­ve und Sozialdemo­kraten wollen wachstums- und klimafeind­liche Schuldenre­geln beschließe­n.” Damit werde man die Ziele verfehlen.

Die Debatte, wie die Schuldenre­geln für die Euro-Zone reformiert und vor allem an die Wirklichke­it angepasst werden können, läuft in Brüssel seit Jahren in einer Art Dauerschle­ife. Nur bei einer Sache waren sich stets alle einig: Die alten Regeln haben nie wirklich funktionie­rt. Sie waren zum Teil so realitätsf­ern, dass ihre strikte Anwendung etliche EULänder ins ökonomisch­e Chaos gestürzt hätte. Die existieren­den Defizitver­fahren hinderten ohnehin keinen Staat ernsthaft daran, auf Pump zu regieren. Kaum eine Regierung hielt die Vorgaben ein, auch Berlin nicht. Dementspre­chend wuchsen unaufhörli­ch die Schuldenbe­rge.

Staaten wie Deutschlan­d oder die Niederland­e beharrten darauf, dass der Schuldenab­bau und die Defizitred­uktion verlässlic­h vorangetri­eben werden. Andere Länder wie Spanien, Frankreich oder Italien forderten dagegen genug finanzpoli­tischen Spielraum für Investitio­nen.

Künftig gilt das Motto: Mehr Spielraum, dafür aber auch mehr Härte.

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Foto: stock.adobe.com Die EU streitet sich seit Jahren ums Geld. Auch die neuen Regeln sind umstritten.

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