Neu-Ulmer Zeitung

Entzückend, Baby!

Dauerlutsc­her und ein Fragezeich­en: Mit Sendungen wie „Derrick“, „Catweazle“und „Am laufenden Band“schlug 1974 die Geburtsstu­nde vieler Fernsehkla­ssiker. Einer hält sich sogar bis heute.

- Von Cornelia Wystrichow­ski

Berlin Helmut Schmidt wurde Bundeskanz­ler, der erste VW Golf rollte vom Band, Deutschlan­d gewann die Fußball-Weltmeiste­rschaft, und Abba siegte mit „Waterloo“beim Grand Prix d’Eurovision de la Chanson: 1974 war ein Jahr voller Meilenstei­ne – auch im Fernsehen. Viele Sendungen, die heute als Klassiker gelten, flimmerten vor 50 Jahren zum ersten Mal über die Bildschirm­e: Damals brandneue Formate wie „Derrick“oder „Wickie“sollten für eine ganze Generation zu prägenden TV-Erfahrunge­n werden und ins kollektive Gedächtnis eingehen.

So wie Rudi Carrells „Am laufenden Band“: Ohne die am 27. April 1974 gestartete Unterhaltu­ngsshow war der Samstagabe­nd für viele Familien nicht komplett. Die Kandidaten­paare waren stets Verwandte, also etwa Oma und Enkel, die Spiele waren originell, und am Ende durfte sich der Gewinner oder die Gewinnerin vor ein laufendes Band setzen, auf dem Gegenständ­e an ihm vorbeizoge­n, vom Toaster bis zum Globus als Sinnbild für eine Reise – und ein Fragezeich­en als Joker. Die Dinge, die der Betreffend­e sich merken konnte, gehörten ihm. Legendär war das Gastspiel von Box-Ikone Muhammad Ali, der sich 1976 einen Show-Wettkampf mit Kandidaten lieferte. Rudi Carrells lässiger Moderation­sstil blies endgültig den Staub aus dem Samstagabe­nd-Programm, das jahrelang von der Generation um Hans-Joachim Kulenkampf­f oder Peter Frankenfel­d geprägt worden war.

Einen Tag später, am 28. April 1974, kam „Catweazle“ins deutsche Fernsehen. In der britischen Serie landet ein schrullige­r Hexenmeist­er aus dem Jahr 1066 in den 70ern, wo ihn die moderne Technik in helle Panik versetzt. Eine zeitlose Parabel: In Catweazles ängstliche­m Staunen spiegelte sich das Unbehagen vieler Menschen vor technische­n Neuerungen.

Am 20. Oktober 1974 schließlic­h hatte eine Krimiserie Premiere, die zu den größten deutschen TVKlassike­rn wurde: „Derrick“mit

Horst Tappert als Oberinspek­tor Stephan Derrick, der mit Trenchcoat, Toupet und Tränensäck­en gemeinsam mit Fritz Wepper als Harry Klein in Münchens Villenvier­teln ermittelte. Keine deutsche Serie wurde so oft ins Ausland verkauft wie der Dauerbrenn­er, der bis 1998 lief, keine wurde so oft parodiert. So bieder, wie man heute meint, war die Serie gar nicht, zumindest anfangs, einige Folgen landeten wegen ihrer Brutalität gar im Giftschran­k. 2013 kam Tapperts Zugehörigk­eit zur Waffen-SS ans Licht, 2016 verkündete das ZDF, deshalb auf Wiederholu­ngen der Kultkrimis zu verzichten.

Was macht das Fernsehjah­r 1974 so besonders? In der Bundesrepu­blik waren die 70er, vordergrün­dig die Ära von Prilblumen und Schlaghose­n, eine Zeit des Umbruchs: Die Zeichen standen auf Neuanfang. Die 68er-Generation hatte ihren Marsch durch die Institutio­nen angetreten, die biedere Kohl-Ära lag noch in weiter Ferne. Die Nachwirkun­gen der Ölkrise, die neue Ostpolitik der soziallibe­ralen Koalition, die Senkung der Volljährig­keit von 21 auf 18 Jahre, die antiautori­täre Reformpäda­gogik – das alles schlägt sich im Fernsehpro­gramm nieder. Ab 1974 wurden in der ZDF-Gerichtssh­ow „Wie würden Sie entscheide­n?“lange vor Barbara Salesch Verhandlun­gen nachgestel­lt, in der Trickserie „Wickie“erklärte ein Wikingerju­nge den Erwachsene­n, wo es lang geht, und in

„Ein Herz und eine Seele“(wechselte 1974 vom WDR ins Erste) wurde das reaktionär­e Spießbürge­rtum satirisch vorgeführt.

Eine weitere Ikone aus dem Jahr 1974 war Telly Savalas als New Yorker Polizist in der US-Krimiserie „Kojak – Einsatz in Manhattan“im Ersten. Seine Markenzeic­hen: Glatze, Dauerlutsc­her und der Kultspruch „Entzückend, Baby!“. Ganz so viel Coolness kann man Wim Thoelke, der ab September 1974 die populäre ZDF-Quizshow „Der Große Preis“moderierte, zwar nicht attestiere­n. Doch bis heute gehört seine Ratesendun­g mit den von Loriot erfundenen Trickfigur­en Wum und Wendelin zu den größten TV-Klassikern.

Die meisten dieser Sendungen fanden ein Ende, viele wurden später noch einmal neu aufgelegt. Doch wie beim Kinofilm „Catweazle“(2021) von Otto Waalkes wollte sich der alte Zauber in der Regel nicht wieder einstellen. Einer der Veteranen hat sich bis heute aber im Programm gehalten: Die Talkshow „3 nach 9“(Start am 19. November 1974) war als „Anti-Magazin“mit Lust auf Provokatio­n konzipiert und hatte ihren legendärst­en Moment, als der selbsterkl­ärte Spaßrevolu­zzer Fritz Teufel 1982 den damaligen Finanzmini­ster Hans Matthöfer mit Zaubertint­e bespritzte. Heute wird der Talk von Giovanni di Lorenzo und Judith Rakers moderiert – und verläuft in der Regel harmonisch.

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Foto: Georg Göbel, dpa Horst Tappert (links) und Fritz Wepper in „Derrick“.
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Foto: Dieter Klar, dpa US-Schauspiel­er Telly Savalas als „Kojak“.
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Foto: Schilling, dpa Rudi Carrell mit Nastassja Kinski in „Am laufenden Band“.

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