Neu-Ulmer Zeitung

Münchens „Blue Rider“zieht in London ein

Die Tate Modern zeigt 130 Werke des „Blauen Reiters“aus dem Lenbachhau­s. Das ist für beide Seiten ein toller Deal. Wobei die Engländer ihre eigene Sicht auf die Malerei der deutschen Expression­isten haben.

- Von Christa Sigg

London Die Ausstellun­g ist noch gar nicht eröffnet, da sind die Kunstkriti­ker im Vereinigte­n Königreich bereits „very impressed“, schwer beeindruck­t. Wenn das so weitergeht, wird der gute alte „Blaue Reiter“in London ein richtiger Erfolg. Ohnehin steht der deutsche Expression­ismus derzeit hoch im Kurs: in Washington zum Beispiel mit den Brücke-Leuten, mit Otto Dix oder dem Österreich­er Egon Schiele; in Den Haag zieht der „eigenwilli­ge“Max Beckmann die Besucher an.

Dass die Münchner Künstlergr­uppe um Franz Marc und Wassily Kandinsky nun diesen internatio­nalen Auftritt hat, ist eher außergewöh­nlich. Die erste und letzte dem „Blue Rider“gewidmete Schau fand 1960 in der damaligen Tate Gallery statt – als bewusst gesetztes Zeichen der Verständig­ung und des Austauschs nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis auf SoloPräsen­tationen der bekanntest­en Reiter-Mitglieder war’s das.

Allerdings dürfen die Säulenheil­igen des Münchner Lenbachhau­ses auch nicht ohne Weiteres reisen, schon gar nicht die Highlights. Durch die großzügige Schenkung Gabriele Münters besitzt die Städtische Galerie die bedeutends­te Sammlung dieser Kunstpioni­ere. Sie wird gehegt und gepflegt, und selbst unter der Woche sind die entspreche­nden Säle bestens frequentie­rt. Doch der Deal mit der Londoner Tate Modern war zu verlockend: Turner gegen Blue Rider – den Münchnern hat der englische Romantiker einen Rekord von mehr als 275.000 Besuchern beschert.

Dafür ließ man die 130 Werke von Erma Bossi bis August Macke oder Alexander von Jawlensky noch etwas lieber ziehen. Und nun fasziniere­n in London die leuchtende­n Farben, die je stärker, desto beunruhige­nder empfunden werden. Zumindest von Jonathan Jones, dem Experten des Guardian. Marianne Werefkins blutrote Augen fallen auf, Wassily Kandinskys giftgrün und violett dominierte Ansicht von Murnau und natürlich Franz Marcs Tiger, der quer durch London auf Plakaten für die Schau wirbt. „The Blue Rider“und der Expression­ismus an sich werden von britischen Rezensente­n im Kontext mit der Urkatastro­phe des Ersten Weltkriegs gesehen, der letztlich zu Nationalso­zialismus und Holocaust führen sollte.

Das Ausstellun­gsteam um Natalia Sidlina, zuständig für die internatio­nale Kunst an der Tate, setzt vielmehr die aktuellen Bezüge ins Zentrum. Das reicht von der

Migration über multiple Identitäte­n und fließende Sexualität­en bis zu den ethnischen Zugehörigk­eiten sowie dem grenzenlos­en Experiment­ieren eines Kollektivs, in dem Männer und Frauen an einem Strang zogen und die Herkunft sowieso keinen gekratzt hat. „Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und keine Nationen, nur die Menschheit“, heißt es im berühmten Almanach. Wenngleich

das niemand an der Tate so formuliere­n würde, ist diese „Rider“-Show natürlich auch ein Statement gegen den Brexit.

Man vergisst das gerne, aber Franz Marc war der einzige Münchner – mit französisc­her Mutter. Die anderen „Blue Riders“kamen aus dem Rheinland, Berlin, aus der Schweiz, Österreich, Polen und viele aus Russland. Nicht zuletzt, weil sie im damals halbwegs liberalen München freier leben und arbeiten konnten. Das unkonventi­onell Offene der Schwabinge­r Bohème hatte sich jedenfalls herumgespr­ochen.

Für Matthias Mühling, den Lenbachhau­s-Direktor, ist das Zusammensp­iel mit der Tate ein Höhepunkt in der Geschichte des Museums. Das betrifft auch den Austausch von Forschungs­ergebnisse­n, der in den vergangene­n Jahren nicht selbstvers­tändlich gewesen sei. Und wenn nun Natalia Sidlina tief in die „Reiter“-Thematik eingestieg­en ist, sich mehrmals nach Murnau begeben und genauso die Kandinsky-Bibliothek im Pariser Centre Pompidou durchforst­et hat, dann profitiert davon auch die Münchner Sammlung.

Die in Russland aufgewachs­ene Kunsthisto­rikerin hat sich Kandinskys Briefe und Tagebuchau­fzeichnung­en vorgenomme­n und interessan­te Details genauer untersucht: Während seines Jurastudiu­ms

Farben sind die schönste Ablenkung von der Revolution.

ist er 22-jährig von Moskau aus ins nördliche Ural-Gebirge gereist, um das Rechtssyst­em der finno-ugrischen Syrjanen, heute Komi, zu erkunden. Dabei lernte Kandinsky die Handwerksk­ultur des Fischer- und Jägervolks sowie dessen Spirituali­tät kennen. Neben der Beschäftig­ung mit Rembrandt scheinen diese Wochen tiefe Eindrücke hinterlass­en zu haben. Kandinsky wird mit der Kolonialis­ierung des Landes und den sozialen, wirtschaft­lichen und ökologisch­en Auswirkung­en konfrontie­rt. Das ist das eine; auf der anderen Seite sollte Kandinsky später seine symbolisch­e Bildsprach­e auf diese Erfahrunge­n zurückführ­en.

Bis der „Expression­issm“dann „blue“wird, dauert es bekanntlic­h, sowieso sind die Farben die schönste Ablenkung von der eigentlich­en Revolution. Ein neugierige­r Blick von außen kann also nicht schaden.

> Expression­ists: Kandinsky, Münter and the Blue Rider. Ab 25. April in der Tate Modern London (bis 20. Oktober).

 ?? Foto: Lenbachhau­s München ?? Das Tate Modern in London präsentier­t den „Blauen Reiter“aus dem Münchner Lenbachhau­s, darunter auch Wassily Kandinskys „Reitendes Paar“aus dem Jahr 1906/1907.
Foto: Lenbachhau­s München Das Tate Modern in London präsentier­t den „Blauen Reiter“aus dem Münchner Lenbachhau­s, darunter auch Wassily Kandinskys „Reitendes Paar“aus dem Jahr 1906/1907.

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