Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (20)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
„Die Transilvania?“
Der Junge nickte.
Sie hatte ihm diese Geschichte oft erzählt. Ob er die Abweichungen erkannte? Ob er merkte, was sie ausließ, hervorhob, wo sie aus lauter Lust übertrieb? Man musste beim Erzählen aufpassen. Kam man von einer vorgegebenen Spur in ungewisses Fahrwasser, konnte sich noch etwas anderes zu Wort melden, Sehnsüchte, Ängste, Wahrheiten. Sie waren in jene Kammer eingezogen, mit wandernden Türen und trüben Fenstern, und es schien ausgemacht, dass man nichts, am wenigsten Hoffnungen, ein für alle Mal hinter sich lassen konnte.
Karline erwartete das Launische, Unberechenbare, Widersprüchliche geradezu. Die Leute erzählten ihre Geschichten auf seltsam feststehende Weise. Als wären sie genau so passiert. Dabei war, das ahnte Karline, jede Geschichte auf hundert mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.
Zwei Jahre, bevor der König Karline die Hand gegeben hatte, verführte Johann sie unterm Apfelbaum im Garten ihres Elternhauses. Von der Remise aus war das Haus kaum mehr zu sehen, die Sprossenfenster, die geschnitzte Überdachung der Veranda, der gusseiserne Wetterhahn am Dachgiebel. Er drehte sich nicht. Die Wiese war septemberwarm, die Bäume lagen im Dunkel, nur ein wenig Mondsilber in den Ästen. Etwas Drängendes war in Johanns
Küssen, er presste sich an sie, sagte ihr Liebesworte, küsste jede freie Stelle ihrer Haut. Etwas sprang auf sie über, rückte fort (der Wille, der Verstand?), etwas anderes übernahm die Führung. Sie konnte diesem Etwas nicht Einhalt gebieten, und je länger sie es versuchte, desto unwahrscheinlicher wurde der Weg zurück.
Irgendwann verschwanden die Wiesendecke, der Wetterhahn, die Apfellichter, und was an ihre Stelle rückte, waren Empfindungen, die sie vom Wünschen befreiten, vom Denken, Wollen, Sehnen, und sich doch für immer als Wollen und Sehnen festsetzten.
Natürlich unterschlug Karline diese Szene, obwohl die Sache mit der Transilvania eigentlich hier begann. Dieser Akt wurde, gleichsam als stiller Auftakt, in der Kammer der Erinnerung nur für sie gespielt.
Ob du jetzt Apfel sagst oder Ahorn, diese Geschichte gehört sowieso dir, dachte Karline, und verwunderlich ist es allemal, dass sie es beide, Johann und der König, zusammen in einem Raum aushielten.
Karline setzte für ihren Enkel an der Stelle ein, als sie mit ihrer Familie nach Mamaia auf Sommerfrische fuhr.
Bei den gepackten Truhen, der Aufregung, die vor der Abreise herrschte, der Zugreise in einem Abteil mit roten Vorhängen und einem livrierten Kellner. Der Arzt hatte ihr von der Reise abgeraten, ihre Schwangerschaft war bereits fortgeschritten, doch sie hatte seine Warnung in den Wind geschlagen (nicht ahnend, dass der Wind sie ihr wieder zurückbringen würde). Die Sehnsucht nach dem Möwenhaus war zu groß.
Sie sagte nichts, als ein ziehender Schmerz im Zug einsetzte, sie sagte auch nichts, als Johann ihr schrieb, er könne nicht nachkommen. Wenn sie ehrlich war, erleichterte sie die Aussicht, einige Wochen für sich zu haben, bevor sie Mutter wurde. Sie saß auf der Terrasse und beobachtete, wie die Sonne über dem Meer aufging. Sie spazierte mit Emma, Marie oder Auguste am Strand entlang, meist mit Emma, ihrer ältesten Schwester, die sich am besten auf ihr neues Tempo einlassen konnte. Sie frühstückte im Garten unter dem Ahorn.
Die filigranen fünfzackigen Blätter rauschten, Blätterhäute bekamen helle Adern, und unendlich langsam wanderte eine Schattenlinie über den Rasen. Die Haushälterin servierte Kaffee, ihr Vater las Zeitung. Ihre Mutter und ihre Schwestern waren wahlweise noch im Bett, im Bad oder ebenfalls (aber selten vollzählig) am Frühstückstisch. Karline war immer als Erste wach, ging barfuß im Morgenmantel über den Rasen und forschte in sich, ob sie eine Vorstellung vom Leben hatte, die ihr mehr entsprach als diese Tage.
Sie war mit ihrem Bauch nicht mehr in der Lage zu schwimmen, sie konnte nicht mehr lange laufen oder in der Sonne baden, aber der Salzgeschmack der Luft war derselbe, die Hitze des Sandes unter den Fußsohlen war dieselbe und ebenso die überraschende Kühle des Wassers, die sie jedes Mal dazu bewog, einige Schritte zurückzuweichen, nur um dann, beglückt von dieser kleinen Verzögerung, weiter in die Brandung hineinzugehen, Welle um Welle.
Karlines Eltern waren zwar nicht glücklich mit der Wahl des Schwiegersohnes (man hatte auf einen der jungen Erben aus dem Freundeskreis gehofft), aber schließlich ließen sich Apfelbaumnächte mit einem Wetterhahn, der seine Aufsichtspflicht verschlief, kaum rückgängig machen. Es gab Tatsachen, die akzeptiert werden mussten. Ein sich rundender Bauch war eine solche Tatsache.
Karlines Familie führte die erfolgreichste Wollwäscherei Siebenbürgens. Der Vater hatte jahrelang mit verschiedenen Verfahren experimentiert, die imstande waren, Wollvliese von Kot, Gräsern und Schweiß zu reinigen. Eine heikle Angelegenheit. 21. Fortsetzung folgt