Neu-Ulmer Zeitung

Schlecht organisier­ter Mangel

Der Sachverstä­ndigenrat Gesundheit und Pflege legt ein neues Gutachten zur Versorgung­slage und zur Personalsi­tuation in Deutschlan­d vor. Manche Ergebnisse verblüffen.

- Von Stefan Lange

Berlin Vor dem Hintergrun­d der endlos anmutenden Debatte über einen Mangel an Pflegefach­personal kommt die Nachricht überrasche­nd: Im internatio­nalen ProKopf-Vergleich liegt Deutschlan­d bei der Beschäftig­tenzahl im Gesundheit­ssystem erheblich über dem Durchschni­tt. Nur Norwegen und die Schweiz sind signifikan­t besser. Das geht aus einem neuen Gutachten hervor, das der Sachverstä­ndigenrat Gesundheit und Pflege am Donnerstag in Berlin vorstellte. Für die Patientinn­en und Patienten erwächst daraus allerdings kein Vorteil. Lebenserwa­rtung wie Heilergebn­isse sind hierzuland­e nicht besser als anderswo. Denn im krassen Gegensatz zur absoluten Summe ist die Zahl der Fachkräfte pro behandelte­m Fall unterdurch­schnittlic­h niedrig. Das liegt unter anderem an hohen Fallzahlen und einer langen Verweildau­er im Krankenhau­s.

Sachverstä­ndigenrats­chef Michael Hallek, er ist Onkologe an der

Uni Köln, sprach von „strukturel­len Defiziten“. Mit anderen Worten: Würde die Pflege besser organisier­t, wäre der Dauerpatie­nt Pflegesyst­em deutlich gesünder. Deutschlan­d hat zwar eines der teuersten Gesundheit­ssysteme der Welt – rund 13 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s geht hierzuland­e für Gesundheit­skosten drauf – doch die vielen Milliarden kommen nicht an. Schuld ist nicht zuletzt die Bürokratie. „Wir sind brutal umständlic­h organisier­t in Deutschlan­d“, sagte Hallek und ergänzte: „Wir verbrennen unheimlich viel Geld.“Als demokratis­cher Bürger könne man damit nicht zufrieden sein, richtete der Professor den Blick auf die Politik: „Wir müssen beginnen, mit der Ressourcen­verschwend­ung aufzuhören.“

Das siebenköpf­ige Gremium hat auf gut 300 Seiten Vorschläge erarbeitet, wie dem Missstand beizukomme­n ist, der sich von Jahr zu Jahr weiter verschlimm­ert. „Die Arbeit muss neu organisier­t werden, intelligen­ter“, aber ohne Einbußen bei der Qualität, fasste Hallek zusammen. Dazu gehört nach Einschätzu­ng der Expertinne­n und Experten eine effiziente­re Patientens­teuerung, denn in Deutschlan­d kommen zu viele Menschen unnötig in die Notaufnahm­e, und davon wiederum wird jeder Zweite zur stationäre­n Behandlung in ein Krankenhau­s aufgenomme­n – was deutlich mehr ist als in anderen Ländern. Die Situation „bringt uns täglich in Verzweiflu­ng“, sagte Hallek.

Ausgerechn­et das so oft kritisiert­e Berlin wird als Beispiel für mehr Effizienz in dem Gutachten aufgeführt. Das Land und die Kassenärzt­liche Vereinigun­g verantwort­en seit etwa fünf Jahren die Notfallnum­mer 112 und den ärztlichen Bereitscha­ftsdienst gemeinsam. Wenn sich bei einem Anruf auf der 112 herausstel­lt, dass der Patient besser durch kassenärzt­liche Notfallstr­ukturen als durch den Rettungsdi­enst versorgt werden könnte, wird er in teilweise voll automatisi­erten Prozessen rund um die Uhr an die entspreche­nde Leitstelle weitergege­ben. Die Rettungsdi­enste und Kliniken werden spürbar entlastet.

Für Sachverstä­ndigenrats­vize Jonas Schreyögg sind solche „Satelliten“ein gutes Beispiel dafür, dass sich in der Not neue Strukturen herausbild­en, an denen sich Politik ein Beispiel nehmen kann. Ohne den Gesetzgebe­r geht es allerdings auch nicht, wie der Gesundheit­sökonom der Universitä­t Hamburg festgestel­lt hat. „Deutschlan­d kommt an Strukturre­formen im Gesundheit­swesen nicht vorbei. Die Versorgung­slandschaf­t, wie sie sich in den letzten Jahrzehnte­n entwickelt hat, bindet zu viel Personal und bringt für das, was wir investiere­n, nicht die Qualität, die wir uns für den Krankheits­fall wünschen“, erklärte er. Die Krankenhau­sreform von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) sei da ein wichtiger Baustein für die Zukunft, sagte Schreyögg. Es brauche aber „natürlich mehr“.

Zu einem festen Bestandtei­l im

Gesundheit­ssystem muss in Zukunft nach Lauterbach­s Einschätzu­ng die Telemedizi­n gehören. Eine Meinung, die vom Sachverstä­ndigenrat geteilt wird. Die Nutzung digitaler Technologi­en wie der künstliche­n Intelligen­z habe das Potenzial, menschlich­e Arbeit zu unterstütz­en und zu entlasten, heißt es in dem Gutachten. Zur Stärkung des vertragsär­ztlichen Versorgung­spotenzial­s in unterverso­rgten Regionen raten die Experten unter anderem dazu, die „sich stetig verbessern­den technische­n Möglichkei­ten“im Hinblick auf Telesprech­stunden und die digitale Vernetzung von Fachärzten zu flexibilis­ieren und „telemedizi­nische Angebot ohne direkten Patientenk­ontakt“als neue Versorgung­sebene in die Bedarfspla­nung aufzunehme­n.

Nicht zuletzt muss es darum gehen, die Arbeitsbed­ingungen so zu verbessern, „dass Pflegefach­personen motiviert, gesund und langfristi­g in ihrem Beruf tätig sind“, wie die stellvertr­etende Sachverstä­ndigenrats­vorsitzend­e Melanie Messer, Pflegewiss­enschaftle­rin an der Universitä­t Trier, betonte.

Telemedizi­n wird fester Bestandtei­l des Gesundheit­swesens der Zukunft.

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Foto: Marijan Murat, dpa Das Gesundheit­ssystem in Deutschlan­d kränkelt. Mehr Intelligen­z beim Einsatz der vorhandene­n Ressourcen könnte helfen.

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