Neu-Ulmer Zeitung

„Ich musste meiner Tochter erklären, dass es Leute gibt, die uns Juden töten wollen“

Mit der Piratenpar­tei wurde Marina Weisband bekannt. Sie spricht über Politikver­drossenhei­t, erklärt, warum sie für ein AfD-Verbotsver­fahren ist – und schließt aus, in die Politik zurückzuke­hren.

-

Frau Weisband, nicht nur Deutschlan­d hat aktuell mit Politikver­drossenhei­t und Populismus zu kämpfen. Warum treten diese beiden Phänomene gerade überall auf der Welt so massiv auf?

Marina Weisband: Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens wird die Menschheit gerade mit Problemen konfrontie­rt, die sie in ihrem herkömmlic­hen System nicht lösen kann. Wir merken, wir haben Kapitalism­us auf Pump betrieben. In den westlichen Ländern hatten wir auf Kosten anderer Länder, unserer Umwelt und unserer eigenen Sicherheit so lange ein bequemes Leben. Aber seien es billiges russisches Gas auf Kosten unserer nationalen Sicherheit, billige Produkte auf Kosten unseres Klimas oder große Ernten auf Kosten der Böden – dieses System ist wie ein Heuschreck­enschwarm, der unsere Ressourcen langfristi­g auffrisst. Deshalb macht sich in den reichen Ländern, die jetzt mit den negativen Konsequenz­en dieses Systems konfrontie­rt werden, aber vor allem im globalen Süden, der schon länger und heftiger leidet, Unzufriede­nheit mit diesem System breit.

Was ist Ihrer Meinung nach der zweite Grund für Populismus und Politikver­drossenhei­t?

Weisband: Viele Populisten und Faschisten sind internatio­nal sehr gut vernetzt und nutzen dies aus, um Autoritari­smus zu etablieren und Narrative zu setzen. Es ist kein Zufall, dass Populisten von Russland bis in die USA die Unisextoil­ette zum nationalen Feind erkoren haben. Dabei hatte sich daran kaum jemand gestört. Niemand wäre von sich aus auf die Idee gekommen, nach den Genitalien der Person zu fragen, die nebenan die öffentlich­e Toilette besucht. Aber solche Narrative werden von konservati­ven Thinktanks mithilfe von Psychologe­n erarbeitet und über internatio­nale Konferenze­n und Social Media verbreitet. Es handelt sich um einen gezielten Angriff auf die freie Gesellscha­ft.

Der Tod des russischen Opposition­spolitiker Nawalny in einer russischen Strafkolon­ie hat wieder einmal das hässliche Gesicht von Autokratie­n gezeigt. Warum wählen Menschen weltweit trotzdem Autokraten?

Weisband: Weil sie nicht Nawalny sein werden. Vielen Menschen sind scheinbare Sicherheit und Stabilität wichtiger als Freiheit. Meine Großmutter war am Boden zerstört, als die Sowjetunio­n zusammenge­brochen ist. Sie sagte mir: „In der Sowjetunio­n ging es uns zwar schlecht, sogar sehr schlecht. Wir waren nicht frei, aber wir wussten immer, was der nächste Tag bringt. Darin hatten wir uns eingericht­et.“Eine Autokratie kann deshalb für Menschen, die das Gefühl haben, sie kämen in einer sich verändernd­en Welt nicht zurecht, eine psychische Entlastung sein.

In Ihrem neuen Buch „Die neue Schule der Demokratie“frage Sie nach den Ursachen von Politikver­drossenhei­t. Wer ist schuld: Politiker und Politikeri­nnen oder Wähler und Wählerinne­n? Weisband: Politikver­drossenhei­t ist ein systemisch­es Problem. Diejenigen, die Politik machen, haben keinen Anreiz, Probleme zu lösen.

Diese steile These müssen Sie erklären.

Weisband: Gerne. Nehmen wir das Bildungssy­stem als Beispiel. Wir alle wissen, dass viel zu wenig in Bildung investiert wird, obwohl wir wissen, dass Bildung ein sehr gutes Investitio­nskapital ist. Jeder Euro, den ich in Bildung investiere, zahlt sich für die Volkswirts­chaft vielfach aus. Aber dieser Effekt tritt erst nach rund 20 Jahren ein – und eine Legislatur­periode dauert nur vier Jahre. Das gleiche Problem gibt es bei der Klimakrise. Unser politische­s System ist also gar nicht darauf ausgelegt, Probleme zu lösen – und das ist ein Riesenprob­lem.

Warum werden Sie nicht wieder Berufspoli­tikerin und machen es besser?

Weisband: In dem bestehende­n System könnte auch ich nur sehr wenig erreichen. Klar, ich könnte ehrlich kommunizie­ren und Visionen formuliere­n, aber dann würde ich von der medialen Landschaft, die hauptsächl­ich Pferderenn­en bis zur nächsten Wahl veranstalt­et, abgestraft werden.

Wieso sind Sie 2012 aus der aktiven Politik ausgestieg­en? Weisband: Ich lebte damals von 660 Euro BAföG. Davon gingen 350 Euro für die Miete drauf. Vom Rest musste ich das Gesicht einer Partei sein, die in den Umfragen bei 13 Prozent lag. Nebenbei musste ich mein Psychologi­ediplom machen. Alles zusammen war nicht machbar.

Verwalten oder gestalten: Politik ist in jedem Fall komplizier­t. Würde die AfD sich entzaubern, wenn sie in Regierungs­verantwort­ung käme?

Weisband: Nein! Käme die AfD in Regierungs­verantwort­ung, würde sie Faschismus betreiben. Ich verstehe überhaupt nicht, warum in Deutschlan­d immer noch von Entzauberu­ng die Rede ist. Ich habe im Geschichts­unterricht gelernt, dass alle glaubten, die NSDAP würde sich entzaubern, sobald sie in Regierungs­verantwort­ung käme. Tatsache war, dass sie den Faschismus umgesetzt hat, den sie angekündig­t hat. Man muss den Leuten glauben, wenn sie erzählen, was sie vorhaben. Die AfD hat unter anderem angekündig­t, dass sie deutsche Staatsbürg­er deportiere­n wird, dass sie den Rechtsstaa­t umbauen, die Pressefrei­heit einschränk­en und alles aussetzen würde, was unsere Gesellscha­ft zu einer freien Gesellscha­ft macht.

Bei einem Treffen rechter Politiker in Potsdam wurden solche Deportatio­nspläne diskutiert. Millionen Menschen sind auf die Straße gegangen, um gegen Fremdenfei­ndlichkeit und Rassismus zu demonstrie­ren. Mittlerwei­le haben die Demonstrat­ionen deutlich weniger Zulauf. Ist es den Menschen auf Dauer zu anstrengen­d sich zu engagieren? Weisband: Demonstrat­ionen sind unglaublic­h wichtig, aber sie sind niemals ein nachhaltig­es Mittel der Politik. Sie sind eine punktuelle Willenserk­lärung der Bevölkerun­g. Jetzt liegt der Ball bei der Politik. Die Politik muss ein Verbotsver­fahren gegen die AfD einleiten, um die Demokratie zu schützen.

Auf diesen Demonstrat­ionen wird auch der Holocaust in nicht gerade kindgerech­ter Weise thematisie­rt. Soll man Kinder trotzdem zu den Demos mitnehmen? Weisband: Ich war sechs Jahre alt, als ich vom Holocaust hörte. Meine Tochter war fünf. Wir haben nicht das Privileg, unsere Kinder vor grausamen Realitäten abzuschirm­en. In meinem Fall geht das schon deshalb nicht, weil es für mich sicherheit­srelevant ist. Meine Tochter fragte mich, warum immer Polizisten vor Ort sind, wenn sie ihre jüdische Jugendgrup­pe besucht. Ich musste meiner Tochter dann – möglichst kindgerech­t – erklären, dass es Leute gibt, die uns töten wollen, weil wir Juden sind. Natürlich sollen Kinder nicht überforder­t werden, aber sie müssen ernst genommen werden. Kinder haben ein Recht auf politische Partizipat­ion.

Zwingt man seinen Kindern seine politische­n Ansichten auf, wenn man sie mit zu Demos nimmt? Weisband: Willkommen im Elternsein! Auch wenn ich mein Kind nicht mit zu Demos nehme, zwinge

„Unser politische­s System ist gar nicht darauf ausgelegt, Probleme zu lösen. Das ist ein Riesenprob­lem.“

„Ich kann mein Kind doch nicht in einen dunklen Raum sperren, bis es 18 Jahre alt ist.“

ich ihm doch die ganze Zeit meine moralische­n Vorstellun­gen auf. So funktionie­ren Erziehung und Sozialisat­ion nun mal. Ich kann mein Kind doch nicht in einen dunklen Raum sperren, bis es 18 Jahre alt ist, und dann hoffen, dass es sich in der Welt seine eigene Meinung bildet.

Seit den schrecklic­hen Angriffen der Hamas am 7. Oktober und der brutalen Reaktion der israelisch­en Armee hat die Zahl der antisemiti­schen Übergriffe in Deutschlan­d und weltweit stark zugenommen. Leiden Sie darunter persönlich?

Weisband: Natürlich! Ich habe mich zum Beispiel sehr, sehr unwohl gefühlt, als ich mit meiner Tochter mit einem Plakat mit Davidstern­en auf einer Demo gegen Fremdenfei­ndlichkeit war. Das war gruselig, zumal wir in der Nähe einer Gruppe standen, die mit Palästinaf­laggen unterwegs war. Ich habe überhaupt nichts gegen Kampf für die palästinen­sische Sache, aber man weiß nie, in welche Gefahr man sich begibt, wenn man einen Davidstern trägt. Die Bedrohungs­lage hat eindeutig zugenommen. Seit dem 7. Oktober rufen Leute in meinem Büro an und schreien meine Mitarbeite­r an und schicken mir Drohmails. Schon während der Coronakris­e wurden wir Juden zu Sündenböck­en gemacht. Das passiert auch bei jedem Aufflammen des Nahost-Konflikts.

Interview: Philipp Hedemann

Zur Person

Marina Weisband wurde am 4. Oktober 1987 in Kiew als Tochter jüdischer Eltern geboren. Sie kam 16 Monate nach der Nuklearkat­astrophe von Tschernoby­l zur Welt und lebte weniger als 100 Kilometer vom Unglücksre­aktor entfernt. Als Kind hatte sie schwere gesundheit­liche Probleme, die sie auf die Strahlenbe­lastung zurückführ­t. 1994 zog sie mit ihren Eltern als Kontingent­flüchtling nach Deutschlan­d. Weisband studierte in Münster Psychologi­e. 2009 trat sie der Piratenpar­tei bei, 2018 wurde sie Mitglied der Grünen. Weisband lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Münster. Ihr aktuelles Buch heißt „Die neue Schule der Demokratie“, S. Fischer Verlag; 176

Seiten, 22 Euro.

 ?? Foto: Hermann Bredehorst, polaris/laif ?? Marina Weisband, als Tochter jüdischer Eltern in Kiew geboren, glaubt, dass Jüdinnen und Juden noch immer zu Sündenböck­en gemacht werden.
Foto: Hermann Bredehorst, polaris/laif Marina Weisband, als Tochter jüdischer Eltern in Kiew geboren, glaubt, dass Jüdinnen und Juden noch immer zu Sündenböck­en gemacht werden.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany