Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (22)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Hinter dem grobmaschigen Sicherheitsnetz, das der Kapitän Leichenfänger nannte (was allgemein überraschte, war man doch im Augenblick des Über-Bord-Gehens im besten Fall noch sehr lebendig), baute sich eine grauschwarze Wolkenwand in der Form eines Dreiecks auf. Diese Pyramide hatte die Sonne bereits geschluckt, ein gleißender Schein umgab die Spitze, als die Prozession in den Bauch des Schiffes hinabstieg.
Während die Schwestern Interesse
an den Kabinen und dem Speisesaal bekundeten, nach Geschirr und Kristall fragten, setzte sich der Vater durch, der zuerst die Maschinenräume sehen wollte. Der Kapitän ging voraus, und Ivan erklärte mit Sachverstand und in aller Ausführlichkeit die Maschinen. Dann gerieten die Männer in politisches Fahrwasser. Dem Vater zufolge stünden die Deutschen kurz davor, wieder einen Krieg anzufangen.
Die Luft war stickig, das Licht der Lampen grell. Das anfänglich sachte Schaukeln ging allmählich in ein starkes Schwanken über, was Karline zunächst auf die Überklarheit ihrer Sinne zurückführte, die sich am Meer immer einstellte. Sie hielt sich fest und versuchte, das Wogen und Wippen mit weichen Knien auszugleichen. Auguste wurde es schlecht, sie machte sich, mit schlingerndem Gang, auf die Suche nach einer Toilette. Marie folgte ihr kurze Zeit später, Emma war auch blass, blieb aber bei ihr. Karline verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Es war nicht das Schwanken, das ihr zusetzte, auch nicht das fehlende Tageslicht, sondern das metallische Scheppern, Dröhnen und Knarren – aus den Rohren drangen Klagelaute, der Boden ächzte, das Schiff wummerte, grollte, und Karline merkte zunächst nicht, wie es auch in ihrem Unterleib rumorte und grollte, dann spürte sie, dass die in Abständen einsetzenden Schmerzen, die sie den ganzen Tag über begleiteten, sich eingeschwungen hatten.
Sie spürte etwas Heißes, einen stechenden Schmerz, und dann hörte und spürte sie nichts mehr.
Sie fand sich in einer Kabine wieder, auf der einen Seite des Bettes der Kapitän, auf der anderen Ivan, am Fußende Emma. Gegen die Kabinenwand brandete die Flut, über dem Bett pendelte eine Lampe hin und her. Karline spürte Panik in sich aufsteigen, dann ein Gefühl der Demütigung.
„Sie können nicht aufstehen“, sagte der Kapitän.
„Aber ich will…“
„Ihr Vater holt einen Arzt. Und solang dieser nicht hier ist, bitte ich Sie, tief in den Bauch zu atmen.“
Karline schluckte ihre Widerworte hinunter. So ein Schwachsinn. Ruhig atmen! Rasender Schmerz biss sich durch ihre Eingeweide, sandte Schmerzwellen in den ganzen Körper aus, ihr unterer Rücken schien auseinanderzubrechen. Sie wandte sich zur Seite und erbrach. Kurz darauf entleerten sich ihre Blase und ihr Darm. Emma half ihr mit dem Nachttopf. Karline empfand keine Scham mehr, es gab nichts anderes als die unerbittliche Realität dieser Schmerzen.
Das Poltern, Brausen und Rasen des Schiffes war auch ihr Rasen, war ein großes, umfassendes Körpergefühl. Sie war das Schiff, auf das der Regen trommelte, gegen das die Wellen peitschten, an dem der Sturm rüttelte, und sie war gleichzeitig selbst der Wind, die Wellen, der Regen, bis sich irgendwann etwas entfesselte, das am Grund des Meeres ruhte und alles ins Chaos stürzte. Eine Welle hob das Schiff empor, irgendwo riss etwas aus seiner Verankerung, ein hoher sirrender Ton löste sich am Oberdeck, sank in den Schiffsbauch und setzte sich in den Gängen fort, ein umherirrendes Echo. Geschirr zerbarst, Gegenstände kippten um, rollten über den Boden, eine Flutwelle klatschte gegen das Bullauge, verfinsterte die Kabine, und Karline schrie.
Als der Vater, völlig durchnässt, gemeinsam mit einem Arzt die Transilvania erreichte, war sein erstes Enkelkind bereits auf der Welt.
Es hatte gedauert, bis sie an Bord kommen konnten, eine Welle hatte die Kaimauer überwunden, das Fallreep in seine Einzelteile zerlegt. Sein zu lauter Gruß auf der Schwelle hatte etwas mit dem Anblick zu tun, der sich ihm bot. Gegenstände auf dem Boden, ein zerwühltes Bett, Kot und Erbrochenes, die Tochter schweißnass, der
Säugling voller Blut und Maschinenöl.
In Kabine einhundertsiebenundsiebzig, einer Unterkunft der ersten Klasse, deren Bullauge wieder eine ruhige Wasserlinie zeigte, war Hannes zur Welt gekommen. Der Kapitän hatte die Nabelschnur durchtrennt, und weil das Kind nicht schrie, hatte Ivan ihm kopfüber mit Händen voller Schmieröl mehrere kräftige Schläge auf den Hintern versetzt, während er etwas auf Russisch sagte, was wie eine Beschwörung klang. Auguste und Marie waren nicht wieder aufgetaucht. Man fand sie in einer Kabine in der oberen Etage, wo sie sich eingeschlossen hatten. Emma wickelte das Kind in einen Kopfkissenbezug und legte es Karline auf die Brust.
Das Schiff ächzte ein Wiegenlied, der Wind kämmte zahm die Wellen, und ein sachter Regen benetzte Karlines Gesicht, als sie einige Zeit später auf einer Trage aufs Oberdeck gebracht wurde.
23. Fortsetzung folgt