Neu-Ulmer Zeitung

Wenn der Arzt an Bürokratie leidet

Mediziner verbringen inzwischen einen Großteil ihrer Arbeit mit Verwaltung und Dokumentat­ionen. Zeit, die für Patienten fehlt. Betroffene berichten, warum viele Praxen den Kollaps fürchten.

- Von Anna Mohl

Berlin Wenn der Hausarzt Peter Weitkamp über Bürokratie in seinem Berufsallt­ag spricht, dringt der Ärger in seiner Stimme durch. „Ich bin Arzt, um Patienten zu behandeln, nicht um irgendwelc­he Daten abzulegen“, klagt der Mediziner. „Das ist doch verrückt. Zwei Arzthelfer­innen stelle ich einen Tag pro Woche komplett ab, um irgendwelc­hen bürokratis­chen Blödsinn zu machen.“Weitkamp hat eine Praxis in Westfalen-Lippe – und er erlebt Tag für Tag, wie die Bürokratie im Gesundheit­swesen Ärzte lahmlegt. Er ist längst nicht der Einzige.

Vor einem Jahr geriet der nordrhein-westfälisc­he Hausarzt in die Schlagzeil­en, weil er eine zweite Praxis eröffnete, in der er allerdings nach Bestimmung­en des bundesweit­en Zulassungs­rechts gar nicht arbeiten durfte. Das ist noch immer so, Weitkamp tut es trotzdem. Weil er einen Kollegen als Angestellt­en beschäftig­en wollte, untersagt die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Westfalen-Lippe das Modell. Dass diese damit nur geltendes Bundesrech­t umsetzt, weiß auch Weitkamp.

Doch für ihn ist das nur ein kleines Beispiel im „Bürokratie­dschungel“– und das Problem ein viel größeres. „Die medizinisc­he Versorgung steht vor dem Kollaps – und uns werden Steine in den Weg gelegt. Wir müssen davon wegkommen, dass wir uns an sinnlose Gesetze halten.“Wenn deswegen ärztliche Versorgung verhindert werde, sei das eindeutig ein Fehler im System. „Und so werden wir gegen die Wand fahren.“

Das sieht auch die Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Westfalen-Lippe so. „Die Praxen stehen vor dem Kollaps“, berichtet ihr Pressespre­cher Daniel Müller auf Anfrage unserer Redaktion. Gleichzeit­ig müsste jede Praxis statistisc­h pro Jahr 60 Arbeitstag­e für Bürokratie aufwenden – unter dem Strich sind das fast drei Monate im Jahr. Die Praxen der Niedergela­ssenen würden in Bürokratie ersticken, erhielten zu wenig Geld und seien mit „nicht ausgereift­en Digitalisi­erungspfli­chten gelähmt“.

Im Krankenhau­sbereich sieht es nicht besser aus. Wie aus einer Befragung des Berufsverb­ands „Marburger Bund“hervorgeht, wenden angestellt­e Ärzte derzeit im Mittel drei Stunden pro Tag für Verwaltung­stätigkeit­en auf. Bei einem Drittel sind es sogar mindestens vier Stunden Aufwand für Bürokratie täglich. Seitenweis­e Papierkram wartet auf die Ärzte außerhalb der Patientenz­immer: Diagnosen und Prozeduren aufschreiP­flegeperso­nal ben, zeitaufwen­dige Arztbriefe verfassen und viele Bögen zur Dokumentat­ion und rechtliche­n Absicherun­g ausfüllen. Gleiches gilt für die Pflege, die durchschni­ttlich 42 Prozent ihrer Arbeitszei­t für Bürokratie aufwendet, meldet das Marktforsc­hungsinsti­tut Schlesinge­r.

„Nicht mehr nachvollzi­ehbare Bürokratie“und immer neue Regulierun­gen würden den Beschäftig­ten in den Krankenhäu­sern täglich zu schaffen machen, heißt es in der „Initiative zum Bürokratie­abbau“ der Bundesärzt­ekammer. Dabei handele es sich zu einem großen Teil um Bürokratie, die lediglich ein Ausdruck von Kontroll- und Misstrauen­sbürokrati­e sei.

Was ist zu tun? FDP-Politiker Andrew Ullmann, selbst Facharzt für Innere Medizin und Professor an der Uni Würzburg, will in der Politik ansetzen. Er selbst habe die Dokumentat­ionspflich­t und die komplizier­ten Abrechnung­sregelunge­n in seiner Zeit als Arzt im Krankenhau­s als „überborden­d“erlebt. „Wir hatten kaum Zeit, uns zwischen Ärzten, Patienten und auszutausc­hen“, sagt der Bundestags­abgeordnet­e. Es sei dringend notwendig, das System zu verändern. Versucht wird das schon, etwa durch das sogenannte „Vierte Bürokratie­entlastung­sgesetz“, das Bundesjust­izminister Marco Buschmann im März vorgelegt hatte. Es sieht unter anderem verkürzte Aufbewahru­ngsfristen und einfachere Regeln für offizielle Papiere vor. Für das Gesundheit­swesen sieht Ullmann darin bislang keine Entlastung­en. Allerdings habe Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach nun bestätigt, dass ein eigenes Entlastung­sgesetz für das Gesundheit­swesen kommen werde. Ullmann erhofft sich deutliche Verbesseru­ngen in Verwaltung, Klinik und Praxis davon. „Ganz ohne Bürokratie geht es nie. Aber wir müssen sie sinnvoll reduzieren.“

Um Bürokratie­abbau zu erreichen, fordert die Kassenärzt­liche Bundesvere­inigung, verschiede­ne Verfahren zu verschlank­en und Vorgaben zu vereinfach­en. Formulare könnten digitalisi­ert und vereinheit­licht, Atteste bei kurzer Krankheits­dauer gestrichen werden. „Die Herausford­erung ist: Wie viel Bürokratie ist nötig, damit etwa die Abrechnung­en korrekt sind und doch gerade die wichtigen Aufgaben in der Pflege und Betreuung nicht hinten herunterfa­llen“, erklärt FDP-Politiker. Allen Beteiligte­n ist klar, dass etwas passieren muss. „Ein ‘Weiter so’ kann es vor dem Hintergrun­d der aktuellen politische­n Rahmenbedi­ngungen nicht mehr geben“, sagt Sprecher Müller von der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g WestfalenL­ippe. Die flächendec­kende, wohnortnah­e und qualitativ hochwertig­e ambulante Versorgung in Deutschlan­d stehe auf dem Spiel. Vor allem im ländlichen Raum sei die Versorgung gefährdet, da junge Ärztinnen und Ärzte sich kaum mehr für eigene Praxen entscheide­n würden.

Hausarzt Weitkamp kann das gut verstehen. Es sei für einen jungen Arzt durch die bürokratis­chen Hürden kaum noch möglich, eine eigene Praxis zu gründen. Er verweist auf das Modell der „Praxismach­er“im Kreis Herford: Dort können bereits vollständi­g ausgebilde­te Fachärzte ein Jahr lang in einer Praxis mitmachen. „Ziel ist es, dass Sie nach Ablauf der zwölf Monate fit sind, als Hausarzt in einer (eigenen) Praxis im Kreis Herford zu arbeiten“, wirbt das Programm. Darüber kann Weitkamp nur müde lachen. „Die Elite unseres Landes ist nicht mehr in der Lage, eine Arztpraxis selbststän­dig zu führen“, sagt er. „Was sagt das über unser Gesundheit­ssystem aus?“

Allen Beteiligte­n ist klar, dass etwas passieren muss.

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Foto: Getty Images Haufenweis­e Verwaltung­saufgaben: In Deutschlan­ds Praxen und Krankenhäu­sern sind die Klagen groß. Die Bürokratie ist für das Gesundheit­swesen kaum noch stemmbar.

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