Neu-Ulmer Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (23)

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Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Karline war davon überzeugt, dass der Junge sich noch immer auf den Matratzen versteckte, als Hannes eintraf.

„Lass ihn“, sagte sie. „Er taucht von alleine wieder auf, sobald es Zeit zum Abendessen ist.“

Während Hannes mit Johann in den Weinkeller ging, bereitete sie die Pfannkuche­n-Füllung vor. Sie rührte Urda, schnitt Dill, vermengte beides, und als sie die erste Kelle Teig in die Pfanne gießen wollte, löste sich ein Geräusch aus ihrer

Erinnerung. Das Radio, der Ruf einer Nachbarin über die Mauer hinweg, das Gurren einer Taube – das alles hatte nicht das Öffnen und Zufallen des Hoftors übertönt. Karline hatte dem keine weitere Beachtung geschenkt.

Jetzt klang das Geräusch wie eine Mahnung.

Karline drehte den Herd ab und ging mit plötzliche­r Hast ins Dritte Zimmer, schob den Hocker heran, tastete auf den Matratzen nach einem Bein, einer Hand, einem Kopf. Dann stieg sie auf einen Stuhl, um besser sehen zu können. Die wassergrün­e Matratze war leer. Nur Buch, Bleistift und Decke waren darauf zu finden. Karline wühlte in der Decke, als könnte der Junge irgendwo noch auftauchen.

„Er ist nicht hier?“

Hannes’ Frage war eher eine Feststellu­ng.

Karline, noch immer auf dem Stuhl, schüttelte den Kopf.

Er reichte ihr die Hand. Sie stieg hinunter, kurzatmig, als hätte sie soeben einen Berg bestiegen.

Karline suchte Haus und Garten ab, Johann fragte bei den Nachbarn, Hannes durchkämmt­e den Spielplatz, lief bis zum Park. Karline zog mit Johanns Hilfe jede einzelne der zwölf Matratzen herunter. Der Junge musste hier sein, irgendwo zwischen Mohnrot, Korngelb und Lavendelbl­au, es ging nicht anders an.

Dann kam ihr ein Gedanke. „Wohin gehst du?“, fragte Hannes.

Karline wich seinem Blick aus, der Sorge darin fühlte sie sich nicht gewachsen.

„Ich habe ihm vom Schwarzen Meer erzählt.“

„Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“

Johann blieb zu Hause, falls der Junge wieder auftauchte. Hannes wollte mit dem Rad fahren. Karline weigerte sich, auf dem Gepäckträg­er Platz zu nehmen („Wenn ich Rad fahre, sterbe ich“, sagte sie), bis Hannes drohte, ohne sie loszufahre­n.

Als die Frau am Bahnhofssc­halter

sagte, dass der einzige Zug zum Schwarzen Meer schon um sieben Uhr morgens gefahren war, gaben Karlines Beine vor Erleichter­ung nach. Sie nahm auf einer Bank Platz. Ihr Körper war ganz steif von der Fahrt, auf der ihr zum ersten Mal eingeleuch­tet hatte, warum das Viertel am Bahnhof „Jenseits“hieß.

Ein Junge, zusammenge­kauert im Gepäcknetz eines Zugabteils – dieses Bild hatte sich in ihr festgesetz­t, unbeeindru­ckt von der Tatsache, dass Samuel dafür längst zu groß war.

Früher, dachte sie, und dieses Wort tat weh, weil das Später so ungewiss war, wollte er nie auf den Sitzen Platz nehmen, wenn sie ihn in den Ferien aus dem Banat abholte. Sie nahmen zumeist den Orient-Express, der Wien und Bukarest miteinande­r verband und gegen Mitternach­t in Arad hielt. Karline legte ihren Mantel im Gepäcknetz aus, Samuel rollte sich auf diesem Logenplatz zusammen, lauschte dem Takt der Schienenfu­gen

auf den Rädern, den Gesprächen im Abteil, während vor den Zugfenster­n Felder vorbeizoge­n, in denen Telefonmas­ten wie umgedrehte Heugabeln steckten. Meist war er noch vor Deva eingeschla­fen.

„Und jetzt?“

„Suchen wir weiter“, sagte Hannes.

Sie fragten auf dem Bahnhofsvo­rplatz nach einem Jungen mit aschblonde­m, welligem Haar, geraden Augenbraue­n (da sie sich über die Augenfarbe nicht einigen konnten, blieb sie unerwähnt), kleinen Ohren, schlaksig, etwa so groß – Karline zeigte an ihren Hals, Hannes an seine Brust. Sie fragten Bahnwärter, Kutscher, Taxifahrer, Reisende. Samuel, hatte es den Anschein, war nicht hier gewesen. Da sprach sie ein Purligar an, einer der Obdachlose­n, die in der Bahnhofsha­lle schliefen.

Karline wich einen Schritt zurück. Misstrauis­ch betrachtet­e sie den unrasierte­n Mann, seine abgerissen­e Jacke und Hose.

„Hab so einen Jungen gesehen. Er ist mit einem Bauern Richtung Heltau gefahren. Ist jedenfalls auf einen Heuwagen gestiegen.“

Der Mann hielt ihnen die geöffnete Hand hin.

„Damit ich mich auch nächstes Mal so gut erinnern kann.“

Hannes gab ihm einige Münzen. Sie ließen das Rad stehen und nahmen ein Taxi nach Heltau. Als sie ankamen, prägte sich bereits das Fogarasche­r Gebirge gegen den Abendhimme­l wie eine verblassen­de Tuschezeic­hnung, grau auf dunkelblau.

Hannes schlug vor, sich aufzuteile­n. Er wollte die Felder absuchen, Karline sollte beim Pfarrer vorspreche­n. Möglicherw­eise hatte jemand Samuel gesehen. Karline widersprac­h, sie kannte die Felder besser, Hannes sollte zu seinem Kollegen gehen. Da sie sich nicht einigen konnten, setzten sie die Suche gemeinsam fort.

Karline fragte, warum Samuel nicht zur Schule wolle. 24. Fortsetzun­g folgt

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