Weißenhorns erstes Grundgesetz
Ein Blick in die spätmittelalterliche Rechtsgeschichte offenbart, wie Weißenhorn schon vor 550 Jahren den Grundstein für ein friedliches Zusammenleben legte.
Weißenhorn Nicht nur in den freien Reichsstädten entwickelte sich im späten Mittelalter eine frühe Spielart der Demokratie. Sicherlich kommt in diesem Zusammenhang nicht zuletzt dank des beliebten lokalen Feiertags der bekannte Ulmer Schwörbrief in den Sinn. Auch in Weißenhorn gibt es ein wegweisendes historisches Dokument. Dieses stand am Donnerstagabend im Fokus, da es vor 550 Jahren dem Geist der Bürgerschaft entsprang.
Das Datum war wohl gewählt: Jedes Jahr am Georgstag, dem 23. April, wurde das Weißenhorner Stadtbuch, eine Regel- und Rechtssammlung, öffentlich verlesen. Zwei Tage später wird seit geraumer Zeit des Hissens einer weißen Fahne am Turm der Pfarrkirche gedacht, was letztendlich zur Verschonung der Stadt vor schweren Bombenangriffen am Ende des Zweiten Weltkriegs zur Folge hatte. So war es neben dem Heimatmuseum auch die im Jahr 2023 aus der Taufe gehobene Initiative „Friedensstadt Weißenhorn“, die zu besagtem Anlass in das historische Schrannengebäude einlud.
Ulrich Hoffmann, Vorsitzender des Heimat- und Museumsvereins, zitierte zunächst aus einem Eintrag der Franziskanerin Alfonsa Forster, den diese angesichts der schrecklichen Kriegsereignisse 1945 in ihrem Tagebuch niedergeschrieben hatte. Der Spruch „Stadtluft macht frei“mag in jenen düsteren Tagen angesichts der ständigen Bedrohung aus der Luft wie Hohn geklungen haben. Zu nah und zu bedeutend waren die Industrieanlagen und vor allem das Lufttanklager im Eschach. Im Großen und Ganzen ist die Stadt Weißenhorn jedoch mit einem blauen Auge durch diese letzten Kriegstage gekommen, wenngleich nur ein paar Minuten und der Mut weniger Menschen den Lauf des Schicksals gerade noch rechtzeitig beeinflusst hatten. „Stadtluft macht frei!“– in der Vormoderne verhieß der Ausspruch hingegen Hoffnung: Frei von Grundherrschaft und Leibeigenschaft, die Chance zu gesellschaftlichem Aufstieg und damit verbunden einem bescheidenen Reichtum. Die große Zeit der Stadtgründungen gehörte bereits der Vergangenheit an, Weißenhorn selbst dürfte das entsprechende Recht um das Jahr 1300 erhalten haben.
Den überaus zahlreichen Besucherinnen und Besuchern bot Museumsleiter Matthias Kunze einen Einblick in die spätmittelalterliche Rechtsgeschichte, deren lokaler Höhepunkt eben die Verleihung des Stadtbuches bildete.
Die Ursprünge des 32-seitigen
Werkes, welches noch in gutem Zustand erhalten ist und an diesem Abend auch dem Publikum präsentiert wurde, reichen zurück in die Zeit, als die niederbayrischen Herzöge mit ihren Händen weit hinein ins Schwäbische griffen. Infolge eines Erbes der letzten Tochter Bertholds von Neuffen, Anna, erhielten die Landshuter Wittelsbacher die Herrschaft im Rothtal. Anfangs noch an die Rechberger verpfändet, gelang es Herzog Ludwig, nicht ohne Grund „der Reiche“genannt, im Jahr 1473 diese Pfandschaft auszulösen und sich in seinen nun direkt unterstellten Territorien huldigen zu lassen. Doch die Weißenhorner hatten bereits vorgesorgt: Rat und Bürgermeister des Städtchens unterbreiteten dem Bayern ein mutmaßlich bislang mündlich tradiertes, jedoch fertiges Gesetzeswerk, das der Herzog nur noch durch seine Kanzlei verschriftlichen und zu bestätigen hatte. Versehen mit dem Zitat „Einigkeit und unser gemain nutz zu fördern“fand das Stadtbuch tatsächlich die großzügige Anerkennung des Landesherrn und sollte fortan quasi als Grundgesetz des Zusammenlebens innerhalb der Mauern gelten, wie Kunze schilderte.
An ein weiteres Gesetzeswerk, dessen Jubiläum ebenfalls in diesem Jahr begangen wird, erinnerte Luise Keck: Wenn auch mit dem Stadtbuch weder an Alter wie auch Umfang vergleichbar, garantiert auch das 1949 erlassene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der Bürgerschaft Rechtssicherheit.
Dass das Prädikat „Friedensstadt“angesichts der zahlreichen Kriegshandlungen nie so aktuell war wie heute, gab Gisela Wabra zu bedenken. Weißenhorn sei offen und tolerant, betonte die Vorsitzende des Pfarrgemeinderats der Fuggerstadt.
Musikalisch stilvoll untermalt wurde die Veranstaltung durch drei Gitarrenstücke, die in professioneller Weise durch drei Schüler der Musikschule vorgetragen wurden.
Letztendlich bleibt den Worten Ulrich Hoffmanns nicht hinzuzufügen: Frieden ist nicht selbstverständlich. Weder in der heutigen Zeit noch vor 550 Jahren, als Weißenhorn unter den Landshuter Herzögen eine Phase relativer Ruhe genießen konnte.