Neu-Ulmer Zeitung

Das lange Erbe der 60er

An amerikanis­chen Universitä­ten protestier­en Tausende Studierend­e gegen den Krieg in Gaza. Sie berufen sich auch auf die Demonstrat­ionen, die dort vor mehr als 50 Jahren stattgefun­den haben. Doch zwischen damals und heute gibt es gravierend­e Unterschie­de.

- Von Sebastian Moll

New York Die jungen Menschen, die kurz vor Mitternach­t auf einem Bordstein in Harlem stehen, sind sichtbar aufgewühlt. Eine Frau, höchstens Mitte 20, die ein Palästinen­sertuch über dem Mund trägt, zittert am ganzen Leib. Wenn sie anfängt zu sprechen, überschläg­t sich ihre Stimme. Ihre Begleiteri­n tippelt von einem Fuß auf den anderen und saugt nervös an einer Zigarette.

Nur wenige Meter von ihnen entfernt hat sich auf der Amsterdam Avenue eine Hundertsch­aft an Polizisten aufgebaut, sie tragen kugelsiche­re Westen und Helme und halten sich Schlagstöc­ke vor die Brust. Seit drei Stunden stehen sie nun schon hier am Eingang des City College, der öffentlich­en New Yorker Universitä­t, die wegen der Qualität ihrer Ausbildung auch das Harvard der einfachen Leute genannt wird. Scheinbar wahllos verhaften sie seither Studentinn­en und Studenten, teilweise mit rabiater Gewalt und setzen sie in wartende Gefängnisb­usse.

Am Nachmittag hatte die Universitä­tsleitung gemeinsam mit der kaum zwei Kilometer entfernten Columbia University die Polizei gerufen, um die Studentenp­roteste gegen den Gaza-Krieg einzudämme­n. Die Zeltlager wurden geräumt, die Polizisten drangen über einen Kran in den zweiten Stock der „Hamilton Hall“von Columbia ein, um die Demonstran­ten abzuführen, die an jenem Nachmittag das Veranstalt­ungsgebäud­e besetzt hatten.

„Sie sind von beiden Seiten auf uns zugekommen“, erzählt eine der Studentinn­en. „Die Polizisten haben uns von hinten in die Polizisten vor uns gedrängt, damit es so aussah, als wären wir die Provokateu­re gewesen“, sagt sie. Ihre Mitstreite­rin liefert dazu gleich die Analyse. „Es ist genau wie in Gaza“, schreit sie in die Nacht. „Sie schicken uns eine Armee, die uns brutalisie­rt, obwohl wir hier nur friedlich unsere Rechte ausüben. Es sind genau dieselben Kräfte der Unterdrück­ung.“Mit einem Satz schlägt die junge Frau eine Art Brücke zwischen der israelisch­en Invasion von Gaza und der amerikanis­chen Polizeigew­alt. Ein beistehend­er Student, ebenfalls mit Palästinen­sertuch maskiert, sagt: „Dies ist die Universitä­t des Volkes, wir sind mehrheitli­ch People of Color. Und die New Yorker Polizei wird bekannterm­aßen vom israelisch­en Militär ausgebilde­t.“

Es ist genau die Art von Rhetorik, die Kritikern der mittlerwei­le USA-weiten Studentenp­roteste sauer aufstößt. So schrieb der Linguistik-Professor John McWhorter von der Columbia University in einem Kommentar in der New York Times: „Die Gegner des Kriegs in Gaza auf der Linken platzieren den Konflikt in den Zusammenha­ng einer größeren Schlacht gegen globale Machtstruk­turen – in diesem Fall in Form von Kolonialis­mus und Genozid – und gegen Whiteness“. Dabei, so McWhorter, gehe jedoch einiges an Nuance verloren.

Es ist diese Verortung der Ereignisse in Gaza im Diskurs des Postkoloni­alismus, die moderatere­n Stimmen wie McWhorter am jetzigen Studentenp­rotest stört. Einem Protest, den es übrigens auch in Deutschlan­d gibt: Erst am Dienstag haben an der Freien Universitä­t Berlin Pro-PalästinaA­ktivisten einen Innenhof mit einem Zeltcamp besetzt.

Für eine Mehrheit der amerikanis­chen Linken war schon unmittelba­r nach dem 7. Oktober klar, dass das von der US-Regierung unterstütz­te Israel an der Aggression durch die Hamas letztlich selbst schuld ist. Bei einer Kundgebung im Times Square am 8. Oktober trugen Angehörige der Demokratis­chen Sozialiste­n Amerikas, denen sich unter anderem Bernie Sanders zurechnet, Schilder mit der Aufschrift „Dekolonisi­erung ist keine Metapher“und „By all means necessary“– mit allen notwendige­n Mitteln. Ein Zitat des Bürgerrech­tskämpfers Malcolm X, der im Zweifel Widerstand gegen Polizeigew­alt gegenüber Afroamerik­anern auch mit Waffengewa­lt befürworte­te.

Für Menschen wie McWhorter, ein afroamerik­anischer Linguist, ist das eine gefährlich­e Vereinfach­ung dessen, was in Nahost passiert und eine Instrument­alisierung der Ereignisse dort für die eigenen politische­n Ziele. Es gebe guten Grund dazu, „den israelisch-palästinen­sischen Konflikt als den moralisch schwierigs­ten der modernen Welt zu betrachten“.

Der deutsch-stämmige jüdische Politologe und Publizist Yascha Mounk, selbst ehemaliger Columbia Student, empfindet das ähnlich. Er sieht hier eine reduktive intellektu­elle Kultur am Werk, die an vielen US-Universitä­ten Wurzeln geschlagen habe. „Es gibt diese Grundidee, dass man die Welt in Weiße und People of Color aufteilen kann, in Kolonisier­te und Kolonisato­ren, und dass man Rassismus nur strukturel­l begreifen kann.“Das werde jedoch oft den Realitäten nicht gerecht.

Für Mounk und McWhorter sind die jetzigen Proteste der Auswuchs eines akademisch­en Nährbodens, der sich in den USA in den vergangene­n 30 Jahren dramatisch gewandelt hat. „Die amerikanis­chen Universitä­ten“, schreibt der Journalist und Schriftste­ller George Packer, „ernten, was sie gesät haben“. Was man jetzt an den amerikanis­chen Universitä­ten sehe, so Packer, sei eine direkte Folge der Proteste der 60er-Jahre, auf welche sich die heutigen Demonstran­ten gerne berufen. So war es ein durchaus intendiert­er symbolisch­er Akt, als die Studenten der Columbia University exakt am Jahrestag der Besetzung der „Hamilton Hall“an der Columbia University im Jahr 1968 dasselbe Gebäude erneut stürmten.

Nachdem die Universitä­tspräsiden­tin Minouche Shafik noch am selben Tag die New Yorker Polizei gerufen hatte, um das

Gebäude räumen zu lassen, trat der palästinen­sisch-stämmige Historiker Rashid Khalili mit einem Megafon vor die Tore der Universitä­t auf den Broadway und erinnerte an jene Tage in den 60er-Jahren, als er selbst Student war. Damals, verkündete Khalili, hätten Columbia Studenten auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden und nicht zuletzt ihrem Protest sei es zu verdanken gewesen, dass der Vietnam Krieg schließlic­h beendet wurde.

Nun seien es erneut die Columbia Studenten, so Khalil, die Amerika aufrüttelt­en und dazu beitrügen, einen weiteren kriminelle­n Krieg zu beenden, den die US-Regierung unterstütz­e. „Hier spricht das Gewissen der Nation durch junge Menschen, die bereit sind, ihre Karriere und ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen.“

Der Unterschie­d zu den 60er-Jahren ist jedoch, dass Akademiker wie Khalil in der Universitä­t nun die Entscheidu­ngsträger sind. „Die Studenten von damals sind die Professore­n von heute“, schreibt Packer. Die revolution­ären Ideen der 60er-Jahre sind zur Orthodoxie geronnen. Die Dogmen der kritischen Theorie, des Postkoloni­alismus und der Identitäts­politik, so Packer, seien der nächsten Studenteng­eneration so sehr in Fleisch und Blut übergegang­en, dass sie kaum mehr reflektier­t würden.

Gerade im Fall der Columbia University, aber auch in Berkeley in Kalifornie­n, den beiden Zentren der Studentenp­roteste der Sechzigerj­ahre, ist dieses Erbe zum Kern ihrer Identität geworden. Die Columbia Universitä­t, die wegen der aktuellen Demonstrat­ionen eben erst die große Abschlussf­eier abgesagt hat, wirbt auf ihrer Website mit Fotos und mit der Geschichte der 68er-Proteste um neue Studenten. Hier, so das Verspreche­n, hat der Kampf gegen die Mächtigen eine Heimat – so man denn die teuren Studiengeb­ühren aufbringen kann. Das Erbe von Edward Said und der Lehrstuhl für postkoloni­ale Studien sind der ganze Stolz der Geisteswis­senschafte­n und lockt Studenten aus der ganzen Welt an.

Das Gerinnen der Glaubenssä­tze der akademisch­en Machtkriti­k zur Orthodoxie hat laut Yascha Mounk einige fatale Folgen. „Es wird zunehmend mit zweierlei Maß gemessen und das führt zu Verwirrung.“Einerseits wäre seit Jahren penibelst jeder Sprachgebr­auch darauf abgeklopft worden, ob er für irgendjema­nden verletzend seine könne. Auf der anderen

Seite würde man sich nun das Recht dazu herausnehm­en, Dinge in die Welt hinauszubr­üllen, die insbesonde­re auf jüdische Studenten extrem bedrohlich wirken.

Weder John McWhorter noch Yascha Mounk glauben, dass die zentrale Motivation der Demonstran­ten Antisemiti­smus sei. Doch das Klima an den Universitä­ten ist für Juden seit dem 7. Oktober deutlich unangenehm­er geworden. So sagt Maytal Polonetsky, eine Columbia Studentin im ersten Semester, dass sie ihren Kettenanhä­nger in der Form des Staates Israel auf dem Campus mittlerwei­le lieber verstecke. Sie fühle sich zwar nie physisch bedroht. Aber die vergangene­n Monate seien emotional extrem anstrengen­d gewesen.

Rebecca Massel, Reporterin für die Studentenz­eitung Columbia Spectator, interviewt­e nach dem 7. Oktober insgesamt 54 jüdische Studierend­e. Das Ergebnis war erschrecke­nd: 13 berichtete­n, sie seien belästigt oder attackiert worden, 34 sagten, sie fühlten sich auf dem Campus unsicher, zwölf erklärten, sie würden, wie Maytal Polontsky, ihre jüdische Identität verstecken.

Der Journalist Franklin Foer hat in einem langen Essay im Atlantic Magazine gar die Diagnose gestellt, dass „das goldene Zeitalter der amerikanis­chen Juden zu Ende gehe.“„Amerikanis­che Juden haben über viele Generation­en ein noch nie da gewesenes Maß an Sicherheit, Wohlstand und politische­m Einfluss genossen.“Infolge der illiberale­n Tendenzen auf der Rechten wie auch auf der Linken gehe dieses Zeitalter jetzt jedoch zu Ende. „Wir leben in einer Zeit der Verschwöru­ngen, der Überzeichn­ungen und der politische­n Gewalt.“Das sei schlecht für amerikanis­che Juden und schlecht für Amerika. „Wenn die USA auf ihrem gegenwärti­gen Kurs bleiben, bedeutet das nicht nur das Ende der goldenen Ära der amerikanis­chen Juden, sondern auch des Landes, das sie getragen hat.“

Es gibt aber auch amerikanis­che Juden, welche die Lage weniger pessimisti­sch einschätze­n. Libby Garland etwa, Geschichts­professori­n an dem staatliche­n Universitä­tsnetzwerk, zu dem auch das besetzte City College gehört, ist an diesem Dienstagab­end gekommen, um Solidaritä­t mit den protestier­enden Studenten zu zeigen.

Sie ist eine von Tausenden New Yorker Juden, die sich in der Pro-Palästina Bewegung engagieren. Garland fühlt sich dadurch ermutigt, dass die „intersekti­onale“linke Bewegung im ganzen Land in den Studentenp­rotesten Präsenz zeigt. Der Staat Israel, meint sie, gehöre nicht zum Kern ihrer jüdischen Identität. Für sie steht der Protest gegen die Grausamkei­ten in Gaza und die amerikanis­che Unterstütz­ung für Israel nicht im geringsten Widerspruc­h zu ihrem Jüdischsei­n. In gewissem Sinn gehört es sogar zu der langen Tradition linken politische­n Engagement­s amerikanis­cher Juden.

„Der einzige Antisemiti­smus, den ich spüre“, sagt sie, während sich die Menge vor dem City College verläuft und die Polizisten das Quartier übernehmen, „ist der von konservati­ven Juden, die Pro-Palästina Demonstran­ten wie mir ihr Jüdischsei­n absprechen.“Das alles, glaubt sie, lenke doch nur von dem eigentlich­en Problem ab, dem täglichen Sterben in Gaza. Und nur darauf gelte es, sich jetzt zu konzentrie­ren.

Der ganze Stolz der Geisteswis­senschafte­n lockt Studenten aus aller Welt an.

 ?? Foto: Douglas R. Clifford/Tampa Bay Times via AP, dpa ?? Seit Wochen kommt es an Dutzenden US-Universitä­ten zu massiven Protesten gegen den Krieg in Gaza. Die Polizei greift teils hart durch, was auch zu Kritik führt.
Foto: Douglas R. Clifford/Tampa Bay Times via AP, dpa Seit Wochen kommt es an Dutzenden US-Universitä­ten zu massiven Protesten gegen den Krieg in Gaza. Die Polizei greift teils hart durch, was auch zu Kritik führt.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany