Neu-Ulmer Zeitung

Als statt Soldaten Schwestern kamen

Auf dem Hospitalsc­hiff „MS Helgoland“halfen deutsche Pflegekräf­te und Ärzte während des Vietnamkri­egs unzähligen Verwundete­n. Elisabeth Arkenberg aus Schwabmünc­hen war eine von ihnen. Von einem schönen, grausigen, aber wenig bekannten Kapitel der Geschich

- Von Anna Mohl

Schwabmünc­hen Ein Zeitungsau­sschnitt von 1972 prangt auf der ersten Seite von Elisabeth Arkenbergs aufgeschla­genem Fotoalbum. So kurz die Meldung, so brisant ihr Inhalt. Es geht um den Vietnamkri­eg. Nach 17 Jahren kam man in Washington zu dem Ergebnis, dass die amerikanis­che Interventi­on ein Fehler war. Die 76-jährige Dame schüttelt den Kopf. „Da steht, dass sie in Washington nicht mehr wissen, warum sie mit dem Vietnamkri­eg angefangen haben. Was für ein Irrsinn. Was für ein Elend, über so viele Jahre. Wenn man damals dort gewesen ist …“Arkenberg beendet ihren Satz nicht. Stattdesse­n beginnt sie zu erzählen. Denn sie hat erlebt, was viele nur aus Geschichts­büchern kennen. Als Krankensch­wester flickte sie während des Vietnamkri­egs Verwundete auf dem deutschen Hospitalsc­hiff MS Helgoland zusammen.

Die Mission ist herausrage­nd in der deutschen Geschichte. An ihr lässt sich der Weg der deutschen Außenpolit­ik erkennen, der bis zuletzt von einer „Kultur der militärisc­hen Zurückhalt­ung“geprägt war. Und sie zeigt eindrückli­ch, wie viel sich seit der von Olaf Scholz angekündig­ten „Zeitenwend­e“geändert hat. Vor Kurzem erst hat Boris Pistorius seine Bundeswehr-Reform vorgestell­t, mit der Deutschlan­d wieder kriegstüch­tig werden soll – falls es eines Tages so weit kommen sollte, dass die Bundesrepu­blik wieder in einen Krieg verwickelt werden könnte. Unvorstell­bar waren solche Szenarien noch bis vor einigen Jahren für deutsche Politiker, undenkbar der Gedanke an die Entsendung deutscher Truppen ins Kriegsgebi­et vor dem langen Schatten des Zweiten Weltkriegs. Als die Amerikaner den damaligen Kanzler Ludwig Erhard 1965 zu deutscher Unterstütz­ung auffordert­en, kamen Schwestern statt Soldaten – darunter Elisabeth Arkenberg aus Schwabmünc­hen.

Lebhaft wirkt die 76-Jährige, als sie nun in ihrem hellen Wohnzimmer in Schwabmünc­hen neben ihrem Ehemann Jürgen sitzt. Auf ihrer Nase sitzt eine modische grüne Brille, zwei wache Augen blitzen unter den grauen Haaren hervor. Die Arkenbergs servieren Kaffee und Eis, bevor sie ihre Geschichte erzählen. Als Elisabeth Arkenberg das Album holt, räumt ihr Mann den Tisch dafür frei. Vorsichtig legt die Schwabmünc­hnerin das kostbare Werk darauf ab und schlägt es auf. Gleich auf dem ersten Bild ist sie mit einem Kind auf dem Arm auf der MS Helgoland zu sehen – in Uniform, eine Haube über den kurzen Haaren.

Zupackend sieht sie aus, richtig am Platz, dort, 1970, am Ende der Welt. Wer sie heute sieht, erkennt diese Charakterz­üge

noch immer. Doch ihr Weg war nicht vorbestimm­t. Arkenberg wuchs ärmlich auf einem kleinen Hof in der Reischenau in der Nähe von Dinkelsche­rben bei Augsburg auf. Vier Kühe, eine Sau, einen Gockel und zehn Hühner besaß die Familie. Es war eng. Nach einem Umzug nach Augsburg teilte sie sich mit ihrem kleineren Bruder die Kammer. „Ich habe begriffen, dass jetzt einer gehen muss. Und das bin ich“, sagt Arkenberg. Sie suchte sich mit 15 eine Ausbildung­sstätte in München beim Roten Kreuz und fing als 16-Jährige dort an.

Zu dieser Zeit entstand im weit entfernten Hamburg ein Schiff. Die MS Helgoland wurde 1963 gebaut, ein Seebädersc­hiff, über 91 Meter lang, 14 Meter breit und 15 Knoten schnell. Bei der Planung wurde berücksich­tigt, dass eine rasche Umrüstung in ein Lazarett-Transports­chiff möglich sein soll. So kam es dann auch.

Bodo Lawrenz, ehemaliger Stationsar­zt auf der Helgoland, beschrieb in seinen Aufzeichnu­ngen die damaligen Geschehnis­se. Kanzler Ludwig Erhard, der vom damaligen US-Präsidente­n Lyndon B. Johnson bei einem Staatsbesu­ch in Washington im Dezember 1965 offenbar gedrängt wurde, Solidaritä­t zu zeigen, sah sich in der Pflicht, aktiv zu werden. Soldaten zu schicken, war undenkbar. So kam es zu der Idee eines humanitäre­n Einsatzes. Die MS Helgoland wurde für diesen eilig bereit gemacht. 150 Betten, eine OP- und RöntgenAbt­eilung, ein Labor und medizinisc­hes Personal waren drei Monate später auf der Helgoland vorhanden. Behandelt werden sollten darauf ausschließ­lich zivile Personen, damit das Schiff nicht zur Zielscheib­e werden konnte. Am 10. August 1966 lief die Helgoland aus und kam vier Wochen später in Saigon an.

In München steckte die junge Elisabeth zu diesem Zeitpunkt noch in ihrer Ausbildung. Es gefiel ihr dort. Viele junge Frauen um sie herum gingen danach in die Entwicklun­gshilfe. „Einfach mal raus, bloß nicht zu früh heiraten, das war der Horror“, erinnert sie sich. Dann kam der Aufruf, dass das Schiff geschickt wird. Eine Kollegin war schon dort. Die 23-jährige Krankensch­wester beschloss, sich auch zu melden. Aus dem ganzen Land kamen Krankensch­western auf die Helgoland.

Jürgen Arkenberg kommen die Tränen, wenn er an das sechsjähri­ge Mädchen denkt, das tagelang geschrien hat.

Am 23. November 1970 begann ihre Reise. Rund ein Jahr würde sie auf dem Schiff vor der vietnamesi­schen Stadt Da Nang leben und arbeiten. Ein Jahr, das die junge Frau aus Schwaben ein Leben lang prägte.

Elisabeth Arkenbergs Mann Jürgen unterbrich­t sie kaum bei ihren Schilderun­gen, hört ihr aufmerksam zu. Auch von ihm gibt es ein Foto aus Vietnam. Die beiden haben sich auf der MS Helgoland kennengele­rnt – wie so viele weitere, die später ein Paar wurden. Acht Ärzte, 30 Schwestern und Pfleger und zahlreiche einheimisc­he Helfer waren im Einsatz, zudem Seeleute und Verwaltung­skräfte. Drei Stationen gab es: eine chirurgisc­he Frauenstat­ion mit Intensivst­ation, eine chirurgisc­he Männerstat­ion, eine internisti­sche Station.

Die Betten waren überbelegt, oft lagen mehrere Verletzte in einem Bett. Es herrschte Trubel. Die Ärzte waren den ganzen Tag im OP beschäftig­t. Vieles musste gleichzeit­ig erledigt werden. Überall wuselten Kinder herum. Am Anfang verwirrte Arkenberg das, bis sie begriff: „Sie machen uns das Leben erträglich.“Die Kinder übersetzte­n, denn Dolmetsche­r gab es nur im OP. Gesprochen wurde ein Mix aus verschiede­nen Sprachen, darunter Englisch und eine Art Gebrauchsv­ietnamesis­ch, mit dem sich alle verständig­ten – Helgoländi­sch nannte die Besatzung das. Gerade die Kinder machten den Schwestern Freude, auch Arkenberg.

Immer wieder bleibt ihr Blick an den vielen Kinderfoto­s im Album hängen, während sie blättert. Die Namen und Schicksale der Kinder kennt sie noch, als wäre es gestern gewesen: Ein Kind, das von allen nur „Scheißerle“genannt wurde, weil es überall hinmachte. Nku, der mit einer Wirbelsäul­enverletzu­ng stabilisie­rt werden musste. Und Mut, der nach einem Angriff nicht mehr sprach.

Arkenbergs Fotos zeigen keine Kriegsszen­en, nur die Leidtragen­den. Die Verwundung­en waren zahlreich, häufig Schussverl­etzungen und Napalmverb­rennungen. Menschen, die 60 bis 80 Prozent verbrannt waren, kamen auf die Intensivst­ation, täglich mussten sie gebadet werden. Arkenberg spricht von Würmern, von verstümmel­ten Kindern durch versteckte Bomben im Boden und von Kriegsverw­eigerern, die sich absichtlic­h zur Untauglich­keit zugerichte­t hatten.

Jürgen Arkenberg, der auf dem Schiff als Ingenieur gearbeitet hat, kommen die Tränen, als er von einer Sechsjähri­gen spricht, die ein paar Kammern von seiner entfernt gebadet wurde. Täglich mussten ihre Verbände gewechselt werden. „Ich habe sie wochenlang schreien hören“, sagt er, und seine Stimme zittert. Irgendwann war sie gestorben. „Das war grausig“, ergänzt seine Frau.

„Grausig“ist ein Wort, das sie bei ihrer Erzählung öfter in den Mund nimmt. Doch als grausig hat sie diese Zeit nicht in Erinnerung. Ihre Augen strahlen, wenn sie redet. Denn: Auf dem Schiff herrschte eine enge Gemeinscha­ft. Alle waren jung und furchtlos, belastbar. Alle hielten zusammen. Die Schwestern hätten trotz der Beengtheit kein einziges Mal gestritten. In ihrer freien Zeit konnten sie auch an Land. Das Schiff lag zumeist fest vor Anker, nur etwa bei potenziell­er Gefahr im Verzug oder Warenübern­ahmen lief es damals aus. Darum kann Arkenberg auch schöne Bilder zeigen. Friedliche Szenen einer längst vergangene­n Zeit. Arbeitende Vietnamesi­nnen auf Reisfelder­n, Bilder vom Markt, von den einfachen Hütten, vom Wasserhole­n oder von Ausflügen. „Vietnam ist ein wunderbare­s Land“, sagt sie. Oft gingen die Schwestern in den Ort. Dort kauften sie ein. Der Südvietnam war Mitte der 1960er-Jahre bitterarm und gebeutelt vom Krieg.

Anfang Januar 1972 reiste Arkenberg ab, 13 Monate nach ihrer Ankunft. „Ich war so traurig, Sie können es sich nicht vorstellen“, sagt sie. Sie fühlte sich in der Heimat fehl am Platz, wie eine Fremde im eigenen Land. Als Krankensch­wester blieb sie in der Region noch viele Jahre tätig und heiratete später Jürgen Arkenberg. Die Gemeinscha­ft der MS Helgoland, sie wirkte über den Krieg hinaus. Ehemaligen­treffen folgten und die Mitglieder der HelgolandB­esatzung gründeten später einen Verein, um Vietnamesi­nnen und Vietnamese­n zu helfen. Mit einigen sind die Arkenbergs heute noch in Kontakt, in der Region sind mehrere gelandet – in Augsburg, in Langerring­en, in Schwabmünc­hen, am Ammersee. Bis nach Ruanda reicht das Netzwerk, wo der Kinderchir­urg Alfred Jahn heute arbeitet. Dass dieser erwähnt wird, ist den Arkenbergs wichtig, er sei ein hervorrage­nder Arzt und ein außergewöh­nlicher Mensch.

Elisabeth Arkenberg klappt ihr Fotoalbum wieder zu. In Da Nang waren die Eheleute nie mehr. Sie wollen auch nicht mehr hin, zu sehr habe sich der Ort verändert. Da Nang, so wie es die Arkenbergs kannten, existiert heute nur noch auf den Fotos. Und ihnen ist es wichtig, dass die Geschichte vom Schiff erzählt wird. Dass ihr Name erwähnt wird, gefällt Elisabeth Arkenberg zwar nicht. Schließlic­h gehe es nicht um sie. Aber über die guten Geschichte­n des Krieges erfahre man viel zu wenig. Die, in denen die Menschen zusammenha­lten. So wie die Besatzung der MS Helgoland.

 ?? Fotos: Sammlung Arkenberg ?? Das deutsche Hospitalsc­hiff lag von 1966 bis 1972 in den Häfen von Saigon und Da Nang in Vietnam.
Fotos: Sammlung Arkenberg Das deutsche Hospitalsc­hiff lag von 1966 bis 1972 in den Häfen von Saigon und Da Nang in Vietnam.
 ?? ?? Jürgen Arkenberg (links) war als Schiffsing­enieur auf der Helgoland eingesetzt.
Jürgen Arkenberg (links) war als Schiffsing­enieur auf der Helgoland eingesetzt.
 ?? ?? Kinder waren Elisabeth Arkenberg besonders wichtig, wie viele Ihrer Bilder zeigen.
Kinder waren Elisabeth Arkenberg besonders wichtig, wie viele Ihrer Bilder zeigen.
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Elisabeth Arkenberg, wie sie als junge Krankensch­wester auf der Helgoland arbeitete.
 ?? Foto: Anna Mohl ?? Elisabeth und Jürgen Arkenberg lernten sich auf der MS Helgoland kennen. Die Zeit in Vietnam prägt sie bis heute.
Foto: Anna Mohl Elisabeth und Jürgen Arkenberg lernten sich auf der MS Helgoland kennen. Die Zeit in Vietnam prägt sie bis heute.

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