Neu-Ulmer Zeitung

„Alle Musiker im Orchester sind betroffen“

Daniel Barenboim leitet mit dem West-Eastern Divan Orchestra ein Ensemble, in dem Musiker aus Israel und den Ländern des Nahen Ostens gemeinsam musizieren. Wie funktionie­rt das in Zeiten des Gazakriege­s?

- Interview: Stefan Dosch

Herr Barenboim, was waren die Motive für Sie, als Sie vor 25 Jahren zusammen mit dem Literaturw­issenschaf­tler Edward Said das West-Eastern Divan Orchestra gegründet haben?

Daniel Barenboim: 1999 war Edwards und mein Ziel gar nicht die Gründung eines Orchesters, sondern erst mal ein Workshop für junge Musiker, um die Koexistenz und den interkultu­rellen Dialog zu fördern. Es war gewisserma­ßen ein Experiment – das, was daraus gewachsen ist, dieses unglaublic­he Orchester, das hätten wir uns damals nicht träumen lassen.

Weshalb eignet sich gerade Musik – konkreter noch: die Musik der europäisch­en Klassik –, um der Feindschaf­t zwischen verschiede­nen Völkern zu begegnen? Barenboim: In der Musik sind wir alle gleich, egal, welchen sozialen, politische­n, kulturelle­n oder ethnischen Hintergrun­d wir haben. Die Musik erfordert, dass wir einander zuhören und auf Augenhöhe begegnen, ohne Vorbehalte und mit einem gemeinsame­n Ziel. Das ist eine wunderbare Grundlage für den Beginn eines Dialogs.

Konflikte zwischen Israel und Palästinen­sern hat es während des Bestehens des West-Eastern Divan Orchestra immer gegeben. Der Überfall der Hamas am 7. Oktober vergangene­n Jahres aber markiert einen besonderen Einschnitt. Wie haben die Mitglieder des Orchesters darauf reagiert? Barenboim: Ich bin zutiefst berührt und beeindruck­t, mit welcher Menschlich­keit, welchem Mitgefühl und welcher Offenheit sich die Musiker bei den Proben in Berlin vor ein paar Wochen begegnet sind. Alle Musikerinn­en und Musiker sind auf irgendeine Art direkt betroffen, die Stimmung im Orchester hätte extrem angespannt sein können. Natürlich gab es viele Diskussion­en, das haben wir aktiv organisier­t und gefördert; aber sie waren alle von Respekt geprägt.

Unmittelba­r nach dem Überfall der Hamas gab es Berichte, dass nicht-israelisch­e Orchesterm­itglieder

sich hinter den Überfall gestellt haben sollen. Wie hat das Orchester, wie haben Sie reagiert? Barenboim: Niemand im Orchester hat den terroristi­schen Angriff der Hamas verteidigt. Aber natürlich stellen wir die schrecklic­hen Ereignisse des 7. Oktober und die darauffolg­ende Invasion des Gazastreif­ens in einen größeren Kontext. Wir sprechen miteinande­r und haben immer den Konsens, dass wir einander unsere Humanität niemals absprechen.

Wie können die beiden Völker in der aktuellen Situation herausfind­en aus der Spirale der Gewalt? Barenboim: Es muss einen radikalen Neubeginn geben. Zunächst natürlich braucht es einen sofortigen Waffenstil­lstand und die Freilassun­g aller Geiseln. Dann aber müssen endlich wieder ernsthafte Gespräche über einen dauerhafte­n Frieden geführt werden – und das geht nur, wenn den Palästinen­sern ein eigener, gleichwert­iger Staat zugesproch­en wird.

Sie sind mit dem West-Eastern Divan Orchestra in zahlreiche­n Ländern zu Gast gewesen, niemals jedoch in Israel. Was ist der Grund dafür?

Barenboim: Es ist ein praktische­r Grund: Einige unserer Musikerinn­en und Musiker dürfen leider nicht einreisen, und wir wollen nur auftreten, wenn alle spielen können.

Um noch einmal auf die Musik zurückzuko­mmen: Sie, Herr Barenboim,

haben alle bedeutende­n Orchester der Welt dirigiert. Jedes Orchester hat seinen eigenen Klang und seine eigene Herangehen­sweise an die Musik. Wie würden Sie diesbezügl­ich das WestEaster­n Divan Orchestra beschreibe­n?

Barenboim: Das Orchester ist absolut einzigarti­g: das bedingungs­lose Engagement jedes einzelnen Musikers, ihr absoluter Wille, einen gemeinsame­n Klang zu schaffen, aufeinande­r zu hören. Das Orchester ist über die Jahre wirklich zu einem Klangkörpe­r geworden, der mit den besten Orchestern der Welt mithalten kann.

Aus gesundheit­lichen Gründen haben Sie im vergangene­n Jahr Ihr Amt als Musikdirek­tor der Berliner Staatsoper Unter den Linden niedergele­gt. Wie ist es, langfristi­g gesehen, um das WestEaster­n Divan Orchestra bestellt, ein Orchester, das symbiotisc­h mit dem Namen von Daniel Barenboim verknüpft ist?

Barenboim: Ich bleibe dem Divan verbunden, solange ich kann. Natürlich aber ist es mir ein Anliegen, dass das Orchester auch lange in der Zukunft weiter auftritt, und wir beschäftig­en uns gerade eingehend damit, wie auch das Orchester selbst seine Zukunft sieht. Es ist ein spannender Prozess.

Daniel Barenboim zählt zu den führenden Dirigenten der Welt. Der 81-Jährige, in Argentinie­n geboren in einer Familie mit russisch-jüdischen Wurzeln, war unter anderem Chefdirige­nt des Chicago Symphony Orchestra und Musikdirek­tor der Mailänder Scala sowie über 30 Jahre lang Generalmus­ikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden. In Augsburg hat Barenboim gerade den Marion-Samuel-Preis 2023 der Stiftung Erinnerung erhalten für seine Arbeit der interkultu­rellen Verständig­ung im West-Eastern Divan Orchestra.

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Foto: G. Matzka, dpa „Das Orchester ist absolut einzigarti­g“: Daniel Barenboim am Pult des West-Eastern Divan Orchestra.

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