„Wir können doch Putin nicht vertrauen!“
Der katholische Bischof von Odessa hat viel Leid gesehen. Und der Krieg in der Ukraine dauert unvermindert an. Zu Gast in Augsburg spricht er über seine Angst vor Russlands Präsident, Waffenlieferungen – und ein Wunder.
Herr Bischof, als wir uns vor neun Jahren das letzte Mal trafen, sagten Sie: „Ich habe Angst vor Putin“.
Bischof Stanislaw Szyrokoradiuk: Ich habe weiter Angst. Und diese Angst ist begründet.
Der russische Präsident, der die Ukraine seit 2022 mit einem Vernichtungskrieg überzieht, hat nun seinen Amtseid für weitere sechs Jahre abgelegt. Er kündigte zudem ein Manöver seiner taktischen Nuklearstreitkräfte an. Szyrokoradiuk: Putin macht das, was ihm möglich ist. Und wenn die richtige Reaktion des Westens, von Europa, ausbleibt, kann er machen, was er will. Er ist verrückt – weil er weder Verantwortung für sein Leben noch für das seines Volkes übernimmt. In meinem Land, der Ukraine, richtet er einen Völkermord an.
Ihre Angst ...
Szyrokoradiuk: ... ach, ich kann auf viele Lebensjahre zurückblicken. Es geht doch darum: Wir kämpfen nicht nur für die Ukraine. Wenn die Ukraine fällt, dann wird Putin weitermachen und noch weiter gehen.
Wir treffen uns in Augsburg, wo Sie mit Bischof Bertram Meier zusammenkommen. Zuvor besuchten Sie unter anderem die Staatskanzlei des Landes NordrheinWestfalen.
Szyrokoradiuk: Die deutsche Unterstützung ist sehr wichtig, und wir haben viel von Deutschland bekommen, auch viel vom Bistum Augsburg.
Dennoch wird zunehmend von einer deutschen „Kriegsmüdigkeit“gesprochen.
Szyrokoradiuk: Wir haben keine Wahl, wir müssen kämpfen – sonst werden wir sterben. Putin will ein neues Imperium schaffen, eine neue Sowjetunion. Sein Ziel ist es daher, die Ukraine zu versklaven. Um das zu verhindern, müssen sich alle Kräfte in Europa und in den USA vereinigen.
Und Deutschland müsste „Taurus“-Marschflugkörper liefern? Szyrokoradiuk: Ja, die brauchen wir. Wir brauchen alles Mögliche an Waffen. Putin versteht keine andere Sprache als die der Kraft.
Kanzler Olaf Scholz ist gegen die Lieferung der Marschflugkörper. Deren Reichweite könnte bis auf russisches Staatsgebiet reichen. Szyrokoradiuk: Putin bombardiert unsere Städte, er macht sie zu Schutt und Asche. Er greift uns an – aber wir sollen darauf nicht antworten können, weil uns die Waffen dazu fehlen?
Sahra Wagenknecht von der neu gegründeten Partei BSW forderte einen Stopp der Waffenlieferungen – um so Putin zu einem Waffenstillstand zu bewegen. Szyrokoradiuk: Wir können doch Putin nicht vertrauen! Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand käme, würde er diesen nutzen, um sein Militär neu aufzustellen. Danach würde der Krieg weitergehen. Wir kennen Putin. Wir haben gesehen, zu was er fähig ist. Denken Sie an die Massaker von Butscha und Irpin, an Mariupol, wo Tausende Zivilisten getötet wurden. Denken Sie daran, wie er mit Gefangenen umgeht, an die Exekutionen. Denken Sie an die Kinder, die nach Russland deportiert werden, Zehntausende. Das ist Terrorismus. Und es wird diskutiert, ob man der Ukraine Waffen gibt!
Worauf hoffen Sie also? Szyrokoradiuk: Darauf, dass wir durchhalten. Und darauf, dass das russische Volk endlich wach wird. Auch dieses macht sich schuldig. Der Krieg wird erst enden, wenn das System Putin endet.
Kritik gab es in Deutschland am Rat des Papstes an die Ukraine, „die weiße Flagge zu schwenken“.
Szyrokoradiuk: Er ist kein Politiker. Und: Was soll er denn sagen? „Töten wir einander“etwa? Nein! Aber natürlich weiß ich, dass das Bild der weißen Flagge missverstanden werden kann als Aufgeben. Wir sind sehr dankbar dafür, dass der Papst immer wieder die Welt daran erinnert, wie sehr die Ukraine leidet. Dass er für uns betet. Und dass er finanzielle und humanitäre Hilfen organisiert.
Sie haben Ihre nach Deutschland geflüchteten Landsleute aufgerufen, in die Heimat zurückzukehren und diese zu verteidigen. Szyrokoradiuk: Es haben ja viele schon vor dem Krieg die Ukraine verlassen. Wegen der Korruption oder fehlender Arbeitsplätze. Sie haben vielleicht in Deutschland studiert, Familie. Ich kann nachvollziehen, dass sie nicht zurück wollen. Eine große Ungerechtigkeit ist es, dass einige junge Männer während des Kriegs nach Deutschland kamen – und andere kämpfen und sterben. Alle wollen leben, doch man kann in der Ukraine auch auf andere Weise den Soldaten helfen, in der Waffenproduktion zum Beispiel.
Wie ist es, sich als Bischof mit diesen Fragen befassen zu müssen? Szyrokoradiuk: Wenn ich zum Beispiel nach Waffenlieferungen gefragt werde, antworte ich. Was Kirche tun muss, ist: bei den Menschen, den Gläubigen, in den Pfarrgemeinden bleiben. Alle unsere Priester sind geblieben – in Cherson wie auf der Krim.
Die Krim ist annektiert, Cherson konnte zurückerobert werden. Beide gehören zu Ihrem Bistum. Szyrokoradiuk: Ich war kürzlich in Cherson, ein Teil der Stadt ist ein Ruinenfeld. Unsere Priester sind unter Lebensgefahr dort. Sie leisten geistliche und moralische Unterstützung: Glaube und Hoffnung, das ist unsere Aufgabe. Wir weinen zusammen, wir beerdigen unsere Toten zusammen. Am schwierigsten ist es, junge Männer zu beerdigen – und dann in die Augen der Mütter, der Witwen und Waisen zu schauen.
Könnten Sie auf die Krim reisen? Szyrokoradiuk: Dann würde ich wahrscheinlich festgenommen. Es ist mir auch verboten, nach Donezk oder Luhansk zu reisen.
Ihre Bischofsstadt Odessa wurde jüngst wieder schwer von russischen Raketen getroffen. Szyrokoradiuk: Ja, aber Odessa lebt! Wir haben, Gott sei Dank, Strom und Wasser, die Geschäfte sind offen, auch die Häfen. Es sind viele Wunder geschehen.
Wunder?
Szyrokoradiuk: Am 20. Dezember vergangenen Jahres wurde in unserer Kirche in Cherson das Weihnachtsfest vorbereitet. Es waren viele Frauen und Kinder dort, zwei Priester. Die Kirche wurde von zwei Raketen getroffen, eine kam durchs Dach, eine durch die Wand. Sie sind nicht explodiert. Unsere Militärexperten sagen, ab und zu explodiert eine Rakete mal nicht. Doch gleich zwei? Ist das nicht ein Wunder? Als ich jetzt wieder dort war, sah ich ein Geschoss direkt bei der Marienstatue stecken, die sich zehn Meter vor der Kirche befindet. Auch dieses Geschoss ist nicht explodiert.
„Wir müssen kämpfen, sonst werden wir sterben.“
Zur Person
Stanislaw Szyrokoradiuk, 67-jähriger Franziskaner aus der Nähe von Kiew, ist seit 2020 römisch-katholischer Bischof des Bistums Odessa-Simferopol. Zuvor war er Bischof von Charkiw-Saporischschja. Er ist auch Präsident des ukrainischen Hilfswerks Caritas Spes. Nach Deutschland reiste Szyrokoradiuk anlässlich der Pfingstaktion des Osteuropahilfswerks Renovabis.