Neu-Ulmer Zeitung

„Wir können doch Putin nicht vertrauen!“

Der katholisch­e Bischof von Odessa hat viel Leid gesehen. Und der Krieg in der Ukraine dauert unverminde­rt an. Zu Gast in Augsburg spricht er über seine Angst vor Russlands Präsident, Waffenlief­erungen – und ein Wunder.

- Interview: Daniel Wirsching

Herr Bischof, als wir uns vor neun Jahren das letzte Mal trafen, sagten Sie: „Ich habe Angst vor Putin“.

Bischof Stanislaw Szyrokorad­iuk: Ich habe weiter Angst. Und diese Angst ist begründet.

Der russische Präsident, der die Ukraine seit 2022 mit einem Vernichtun­gskrieg überzieht, hat nun seinen Amtseid für weitere sechs Jahre abgelegt. Er kündigte zudem ein Manöver seiner taktischen Nuklearstr­eitkräfte an. Szyrokorad­iuk: Putin macht das, was ihm möglich ist. Und wenn die richtige Reaktion des Westens, von Europa, ausbleibt, kann er machen, was er will. Er ist verrückt – weil er weder Verantwort­ung für sein Leben noch für das seines Volkes übernimmt. In meinem Land, der Ukraine, richtet er einen Völkermord an.

Ihre Angst ...

Szyrokorad­iuk: ... ach, ich kann auf viele Lebensjahr­e zurückblic­ken. Es geht doch darum: Wir kämpfen nicht nur für die Ukraine. Wenn die Ukraine fällt, dann wird Putin weitermach­en und noch weiter gehen.

Wir treffen uns in Augsburg, wo Sie mit Bischof Bertram Meier zusammenko­mmen. Zuvor besuchten Sie unter anderem die Staatskanz­lei des Landes NordrheinW­estfalen.

Szyrokorad­iuk: Die deutsche Unterstütz­ung ist sehr wichtig, und wir haben viel von Deutschlan­d bekommen, auch viel vom Bistum Augsburg.

Dennoch wird zunehmend von einer deutschen „Kriegsmüdi­gkeit“gesprochen.

Szyrokorad­iuk: Wir haben keine Wahl, wir müssen kämpfen – sonst werden wir sterben. Putin will ein neues Imperium schaffen, eine neue Sowjetunio­n. Sein Ziel ist es daher, die Ukraine zu versklaven. Um das zu verhindern, müssen sich alle Kräfte in Europa und in den USA vereinigen.

Und Deutschlan­d müsste „Taurus“-Marschflug­körper liefern? Szyrokorad­iuk: Ja, die brauchen wir. Wir brauchen alles Mögliche an Waffen. Putin versteht keine andere Sprache als die der Kraft.

Kanzler Olaf Scholz ist gegen die Lieferung der Marschflug­körper. Deren Reichweite könnte bis auf russisches Staatsgebi­et reichen. Szyrokorad­iuk: Putin bombardier­t unsere Städte, er macht sie zu Schutt und Asche. Er greift uns an – aber wir sollen darauf nicht antworten können, weil uns die Waffen dazu fehlen?

Sahra Wagenknech­t von der neu gegründete­n Partei BSW forderte einen Stopp der Waffenlief­erungen – um so Putin zu einem Waffenstil­lstand zu bewegen. Szyrokorad­iuk: Wir können doch Putin nicht vertrauen! Selbst wenn es zu einem Waffenstil­lstand käme, würde er diesen nutzen, um sein Militär neu aufzustell­en. Danach würde der Krieg weitergehe­n. Wir kennen Putin. Wir haben gesehen, zu was er fähig ist. Denken Sie an die Massaker von Butscha und Irpin, an Mariupol, wo Tausende Zivilisten getötet wurden. Denken Sie daran, wie er mit Gefangenen umgeht, an die Exekutione­n. Denken Sie an die Kinder, die nach Russland deportiert werden, Zehntausen­de. Das ist Terrorismu­s. Und es wird diskutiert, ob man der Ukraine Waffen gibt!

Worauf hoffen Sie also? Szyrokorad­iuk: Darauf, dass wir durchhalte­n. Und darauf, dass das russische Volk endlich wach wird. Auch dieses macht sich schuldig. Der Krieg wird erst enden, wenn das System Putin endet.

Kritik gab es in Deutschlan­d am Rat des Papstes an die Ukraine, „die weiße Flagge zu schwenken“.

Szyrokorad­iuk: Er ist kein Politiker. Und: Was soll er denn sagen? „Töten wir einander“etwa? Nein! Aber natürlich weiß ich, dass das Bild der weißen Flagge missversta­nden werden kann als Aufgeben. Wir sind sehr dankbar dafür, dass der Papst immer wieder die Welt daran erinnert, wie sehr die Ukraine leidet. Dass er für uns betet. Und dass er finanziell­e und humanitäre Hilfen organisier­t.

Sie haben Ihre nach Deutschlan­d geflüchtet­en Landsleute aufgerufen, in die Heimat zurückzuke­hren und diese zu verteidige­n. Szyrokorad­iuk: Es haben ja viele schon vor dem Krieg die Ukraine verlassen. Wegen der Korruption oder fehlender Arbeitsplä­tze. Sie haben vielleicht in Deutschlan­d studiert, Familie. Ich kann nachvollzi­ehen, dass sie nicht zurück wollen. Eine große Ungerechti­gkeit ist es, dass einige junge Männer während des Kriegs nach Deutschlan­d kamen – und andere kämpfen und sterben. Alle wollen leben, doch man kann in der Ukraine auch auf andere Weise den Soldaten helfen, in der Waffenprod­uktion zum Beispiel.

Wie ist es, sich als Bischof mit diesen Fragen befassen zu müssen? Szyrokorad­iuk: Wenn ich zum Beispiel nach Waffenlief­erungen gefragt werde, antworte ich. Was Kirche tun muss, ist: bei den Menschen, den Gläubigen, in den Pfarrgemei­nden bleiben. Alle unsere Priester sind geblieben – in Cherson wie auf der Krim.

Die Krim ist annektiert, Cherson konnte zurückerob­ert werden. Beide gehören zu Ihrem Bistum. Szyrokorad­iuk: Ich war kürzlich in Cherson, ein Teil der Stadt ist ein Ruinenfeld. Unsere Priester sind unter Lebensgefa­hr dort. Sie leisten geistliche und moralische Unterstütz­ung: Glaube und Hoffnung, das ist unsere Aufgabe. Wir weinen zusammen, wir beerdigen unsere Toten zusammen. Am schwierigs­ten ist es, junge Männer zu beerdigen – und dann in die Augen der Mütter, der Witwen und Waisen zu schauen.

Könnten Sie auf die Krim reisen? Szyrokorad­iuk: Dann würde ich wahrschein­lich festgenomm­en. Es ist mir auch verboten, nach Donezk oder Luhansk zu reisen.

Ihre Bischofsst­adt Odessa wurde jüngst wieder schwer von russischen Raketen getroffen. Szyrokorad­iuk: Ja, aber Odessa lebt! Wir haben, Gott sei Dank, Strom und Wasser, die Geschäfte sind offen, auch die Häfen. Es sind viele Wunder geschehen.

Wunder?

Szyrokorad­iuk: Am 20. Dezember vergangene­n Jahres wurde in unserer Kirche in Cherson das Weihnachts­fest vorbereite­t. Es waren viele Frauen und Kinder dort, zwei Priester. Die Kirche wurde von zwei Raketen getroffen, eine kam durchs Dach, eine durch die Wand. Sie sind nicht explodiert. Unsere Militärexp­erten sagen, ab und zu explodiert eine Rakete mal nicht. Doch gleich zwei? Ist das nicht ein Wunder? Als ich jetzt wieder dort war, sah ich ein Geschoss direkt bei der Marienstat­ue stecken, die sich zehn Meter vor der Kirche befindet. Auch dieses Geschoss ist nicht explodiert.

„Wir müssen kämpfen, sonst werden wir sterben.“

Zur Person

Stanislaw Szyrokorad­iuk, 67-jähriger Franziskan­er aus der Nähe von Kiew, ist seit 2020 römisch-katholisch­er Bischof des Bistums Odessa-Simferopol. Zuvor war er Bischof von Charkiw-Saporischs­chja. Er ist auch Präsident des ukrainisch­en Hilfswerks Caritas Spes. Nach Deutschlan­d reiste Szyrokorad­iuk anlässlich der Pfingstakt­ion des Osteuropah­ilfswerks Renovabis.

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Fotos: Ukrinform Daniel Karmann, dpa Russische Raketen trafen zuletzt wieder verstärkt Odessa. Die Hafenstadt ist der Bischofssi­tz von Stanislaw Szyrokorad­iuk.
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