Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (33)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Sie kam mit den Ameisen im Korridor zurecht und schüttelte die Raupen von der Wäsche. Sie erschlug Stechmücken und fing Spinnen. Aber Kröten ertrug sie nicht. Ihre schwarzen, ovalen Augen, die warzig-braune Haut. Vor allem aber ekelten sie die langen Beine, fürchtete sie ihre Fähigkeit, mit unvermittelten Sprüngen vor einem aufzutauchen.
Hannes ging in die Hocke. Florentine reichte Karline ihre Handtasche. Konstanty ging ebenfalls in die Hocke und nahm Malva auf den Rücken, was er noch nie getan hatte. Karline hielt kopfschüttelnd auch Malvas Tasche. Die Männer trugen ihre Frauen huckepack vom Hoftor zur Eingangstür. Florentine streckte übermütig die Beine aus. Malva lachte, ein leises, perlendes Lachen, das in Stanas Magen ein warmes Licht anknipste.
Es zirpte aus den Gräsern und Hecken. Kröten sprangen über den Weg. Ein vergnügtes, unbekümmertes Geräusch.
Samuel und Stana blieben zurück, bis die Erwachsenen im Hausflur verschwanden. Dann zog Samuel Stana zu sich heran.
Es war nicht seine Idee gewesen. In der Luft.
Mit einer Propellermaschine. Aber es funktionierte.
Oz hatte es mit gefälschten Papieren versucht. Es war leichtfertig, es war dumm. Aber auch verwegen. Ein Freund hatte eine Bundesdeutsche
geheiratet. Am Tag der Hochzeit, als der Standesbeamte kurz den Raum verließ, hatte Oz eine Heiratsurkunde aus dem Formularbogen gerissen, vor aller Augen, beiläufig, als würde er Brotkrumen vom Tisch wischen. Niemand sagte etwas. Er rollte das Papier zusammen, steckte es in die Hemdtasche. Den ganzen Abend achtete er darauf, dass niemand ihn zu fest umarmte. Was vielleicht auch niemand wollte, so wie er schwitzte. Was er nicht bedachte, war, dass die Bögen fortlaufend nummeriert waren. Jemand verpfiff ihn. Es konnte jeder gewesen sein, auch der Bräutigam, der auf seine Ausreisepapiere wartete.
Einen Monat nach der Trauung fuhr er ans Schwarze Meer. Er dachte nicht mehr an das Blatt Papier, mehr war es ja nicht. Erst wenn er seinen Namen und den einer Ausländerin darauf setzen würde (eine, die noch zu finden war), erst wenn er die erforderlichen Stempel beschafft hätte, dann wäre es etwas: die Möglichkeit,
das Land zu verlassen. Die Grenzlinie fortwischen, die bemessenen Wege.
Wie mutig wäre man, wenn man nur könnte?
Die Perser benannten die Himmelsrichtungen nach Farben. Weiß der Westen, Rot der Süden, Grün der Osten, Schwarz der Norden. So erhielt das Schwarze Meer seinen Namen, Marea Neagra˘ . Das All war schwarz, Luthers Gewand war schwarz. Aber ein schwarzer Tag war ebenso wenig erstrebenswert wie der Umstand, auf einer schwarzen Liste zu stehen. So wie er.
Eines Nachmittags kam auf der Promenade ein Mann auf ihn zu. Er trug ein langärmeliges Hemd. Seine Schuhe glänzten, als käme er vom Tanzunterricht. Trotz der Hitze stand kein Tropfen Schweiß auf seiner Stirn. Er sah nicht aus wie einer, der hier Urlaub machte. Oz wusste gleich, dass das nicht gut war.
„Das Standesamt ist geschlossen.“
Mehr sagte er nicht.
Oz rief Samuel an. Er erklärte ihm, wo er das Formular versteckt hatte, und wies ihn an, es in einem Umschlag an das Standesamt zurückzuschicken. Es konnte ihm nichts nachgewiesen werden. Und doch. Etwas war aufgehoben, etwas hatte sich ihm zugewendet, wie ein überraschtes Gesicht. Er erschrak, wenn jemand nach ihm fragte, wenn er Schritte hinter sich wahrnahm. Die tanzenden Schuhe. Er konnte sie hören, auf einem Korridor, einer nächtlichen Straße. Die Dopplung seiner eigenen Schritte.
Er konnte sie sehen, in einem überfüllten Aufzug, in der Straßenbahn, am Rand eines Fußballfeldes.
Seine Wohnung wurde durchsucht. Er wurde vorgeladen. Immer dasselbe Spiel. Zunächst befragte ihn ein Polizist mit schlechten Manieren, drohte ihm Prügel an. Dann kam ein freundlicher Polizist. Ich kann dir helfen, sag die Wahrheit. Dabei hatten diese
Leute an nichts weniger Interesse als an der Wahrheit.
Eine Weile ging es gut. Dann geriet Oz an einen, der ihm die Prügel nicht androhte, sondern ihn gleich prügelte.
Jetzt denkst du an etwas anderes, bis es vorbei ist, sagte er sich, hielt sein Gesicht hin, hob nicht einmal die Hände, um es zu schützen.
Die Schaumzungen der Brandung. Der Salzrand auf Erikas Schultern, dort, wo die Haare endeten. In die Länge gezogene Locken. Verklebte Wimpern wie nach langem Schlaf. Er biss in eine Zitrone, tat, als machte es ihm nichts. Erika lachte, und es war ihm gleich, ob sie ihn aus- oder ihm zulachte. Das Schaudern, das die Säure der Zitrone auslöste. Ein verzögertes Schaudern, das seinen Körper ausfüllte – wie der einsetzende Schmerz, verzögert, alles ausfüllte.
Sein linkes Auge schwoll zu. Am Kinn klebte Blut. 34. Fortsetzung folgt