Alles, nur nicht gewöhnlich
Das 10. Weißenhorn-Klassik-Festival begann furios mit einer Serie ungewöhnlicher Kammerkonzerte. Ein mitreißendes, seltenes Erlebnis, das im Juli weitergehen soll.
Weißenhorn Seit zehn Jahren gibt es das Festival „Weißenhorn Klassik“, ein Festival mit einem ungeheuren Luxus – hier zählen Atmosphäre und Wärme, nicht die Anzahl der verkauften Sitzplätze.
Im Jubiläumsjahr haben sich die Macher – Sängerin Esther Kretzinger und Violinist Georges-Emmanuel Schneider – etwas Besonderes einfallen lassen: ein zweistufiges Festival. Die erste Phase, ein Kammermusikfestival, ging am vergangenen Wochenende mit viel Applaus und zahlreichen eindrücklichen Erfahrungen über die Bühne.
Zur Eröffnung spielte der Pianist Herbert Schuch ein Recital im Renaissancesaal des Weißenhorner Schlosses. 2016 war Schuch schon einmal zu Gast und bedankte sich am Ende mit den Worten: „Danke für die Stille“. Auch dieses Mal hätte man eine Stecknadel fallen hören können in den kurzen Momenten des Atemholens in seinem Solo-Recital.
Da spielte Schuch Mozart, Schubert und Janacek in pianistischer Perfektion. Aber es ist eben keine seelenlose, rein technische und effektbewusste Perfektion, mit der Schuch etwa die „Sonate A Dur“(KV 331) zum Klingen brachte. Vielmehr lässt Schuch bekanntes Material aufatmen, entschlackt und reinigt. So raubte der 1979 in Temeschburg (Rumänien) geborene Schuch dem Hörer immer wieder den Atem mit Nuancen, die man so noch nie zu hören glaubte. Da ist insbesondere in Wolfgang Amadeus Mozarts „Sonate c Moll“(KV 457) eine Dramatik, eine Entwicklung zwischen den verschiedenen Partien, die Schuch mit feinen Abtönungen und Kontrasten zu einer fließenden, ungeheuer eindrücklichen Bewegung transformiert. Ein bisschen verhält es sich mit der Schuch’schen Interpretation wie mit der Wiederentdeckung vergessene Wörter und Phrasen, die plötzlich mit überwältigender Frische wieder vor einem stehen. Und so mochten dem Hörer in Weißenhorn insbesondere die oft gespielten Mozart-Werke wie etwas ganz Neues, noch nie Gehörtes erscheinen.
In einem Interview sagte Schuch einmal humorvoll, er setze „im Prinzip nur Luft in Schwingung.“Nun, das ist die gewitzte Untertreibung eines wahren Könners. Schuch schlägt Krusten und Patina von (über-)bekanntem Material, er nimmt sich die Freiheit, Tempi und Pausen subtil anzupassen und so das Bekannte neu zu erleben. Dass Schuch in seinem Recital die Impromptus Nr. 1 f Moll, Nr. 2 As Dur und Nr. 3 B Dur von Franz Schubert mit Auszügen aus Leosˇ Janácˇeks Album „Auf verwachsenem Pfade“koppelte, war ein weiterer Glücksgriff. Denn Janácˇeks Bezüge zu Schubert wurden auf diese Weise ganz unmittelbar erlebbar. Wie sich Janácˇeks im Tonfall etwas lichtere (und kürzere) Stücke mit Schubert verwoben, das war ein erstklassiges Erlebnis.
Mit Zugaben von Franz Liszt (die monumentale „La Campanella“) und Bach-Busoni („Nun komm, der Heiden Heiland“) verabschiedete sich Schuch von einem restlos begeisterten Publikum.
Tag Zwei begann mit einem Solo der portugiesischen Virtuosin Joana Gama, die sich, neben bemerkenswerten Programmen mit Frederic Mompou und portugiesischen Komponisten, insbesondere für den deutschen Modernisten Hans Otte einsetzt. Diesem immer noch zu wenig bekannten Komponisten und Pianisten, der 2007 verstarb, richtete Gama in ihrem Heimatland sogar ein Festival ein.
In Weißenhorn spielte sie als „Meditationskonzert“Ottes eindrückliches „Buch der Klänge“(OWV 42, geschrieben 1979–1982). Man muss Otte in einer Reihe mit Zeitgenossen wie etwa John Cage, La Monte Young, Terry Riley und Jeroen Van Veen sehen. Das „Buch der Klänge“ist ein zwölfteiliges Erlebnis von rund einer Stunde: Eine raffinierte, zwischen Dur und Moll, langsam und rasant wechselnde Synthese alter und neuer Klänge. In den langsamen Passagen hört man Anklänge von Chopin, Debussy, Ravel, in den flotten UptempoPassagen ist es unverkennbar die Minimal Music, die den Herzschlag stellt.
Eine zugleich erdende und aufwühlende Musik, auf die man sich einlassen muss – und die, um zu wirken, brillant vorgetragen werden muss. Das Werk ist bei Joana Gama in allerbesten Händen. Dank feinster Anschlagsnuancen entfaltet Ottes Klavierwerk unter Gamas Händen eine expressive Leuchtkraft. Podium und Publikum sind wie verschmolzen; und nach dem letzten Ton mag so mancher Konzertbesucher mit großem Bedauern in die Gegenwart zurückgekehrt sein.
Ein furioses, seltenes Erlebnis. Auch der dritte Konzertabend wusste mit Ungewöhnlichem zu punkten: auf großem Instrumentarium, an teilweise selbst ausgedachten und gebauten Instrumenten
entfalteten Rajesh Mehta (unter anderem Trompete und Hybrid-Trompete) und Georges-Emmanuel Schneider (Violine, StrohGeige) einen Kosmos, in dem Elemente der indischen Musik, des Free Jazz und elektronische Beats verquirlt sind. Das Ergebnis gefiel sofort: eine zugleich atmosphärisch dichte, spielerische, in den Klangkonstellationen oftmals ebenso kreative wie ungewohnte Welt, die als „Weltmusik“unvereinbares (oder was immer man als solches etikettiert) vereint. Da gab es aber auch reichlich Momente zum Schmunzeln, etwa wenn Helikopter-Trompete und WahwahVioline aufdrehen oder Mehta und Schneider sich improvisierend auf ihre Musikalität verlassen.
Das zehnte Jahr Weißenhorn Klassik hat fulminant begonnen – und findet eine Fortsetzung in den Open Air-Konzerten im Juli. Ein Muss für Klassik-Liebhaber, aber auch für alle, die Klassik abseits gewohnter Konventionen neu erfahren möchten.