Der Münchner Hauptbahnhof verkommt
Oberbürgermeister Dieter Reiter spricht von „Verwahrlosungstendenzen“. Eine Spurensuche vor Ort offenbart, mit welch komplizierter Situation sich die Landeshauptstadt konfrontiert sieht.
München Eine Großbaustelle nach der anderen, leerstehende Gebäudekomplexe und eine vertriebene Drogen-Szene, die sich im Umfeld ihren Platz sucht – das meinte der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) also, als er von „Verwahrlosungstendenzen“rund um den Hauptbahnhof sprach. Reiter hatte sich selbst ein Bild gemacht, bei einer Exkursion mit der Polizei, die Schützenstraße hinunter zum Stachus, vorbei am Justizpalast und hin zum Alten Botanischen Garten. Ihren Spuren folgend lassen sich diese Eindrücke nachempfinden, jedoch auch erahnen, warum eine schnelle Verbesserung schwierig werden dürfte. Einerseits werden die vielen Baustellen und Leerstände nicht kurzerhand verschwinden, andererseits ist die Stadt München gewissermaßen Leidtragende ihres erfolgreichen sozialen Engagements.
Besucher der Landeshauptstadt, die mit dem Zug ankommen, sehen derzeit vor lauter Baustellen den Bahnhof kaum. Im Empfangsgebäude sind die Säulen der stählernen Halle großräumig eingezäunt, auch an beiden Ausgängen wird gebaut. Der Neubau schreitet voran, viel Platz ist nicht, schon gar nicht um die größte Baustelle, draußen am Bahnhofsplatz. Dort gegenüber sollen die Leute eigentlich in Richtung Stachus durch die Schützenstraße flanieren, doch die ist einem mitleiderregenden Zustand. Auf der nördlichen Straßenseite steht jeder Gebäudekomplex leer. In den ehemaligen Kaufhof zogen Obdachlose und Süchtige ein, erst vor Kurzem räumte die Stadt den Komplex und sperrte ihn mit Bauzäunen ab. Auf der südlichen Straßenseite leiden die Verbliebenen trotzdem weiter.
„Hier kommen keine Leute mehr vorbei, es sieht schrecklich aus“, sagt Andjelico Kaser und deutet auf die Bauzäune. Der 35-Jährige ist Geschäftsführer des Modeladens Vintage Revivals. Als sie noch nicht standen, sei es noch schlimmer gewesen, immer wieder habe er Ärger mit Betrunkenen gehabt. „Wären wir nicht Teil einer Kette, müsste ich in zwei Monaten schließen, so sehr sind die Umsätze eingebrochen.“Entlang der Straße hat die Stadt ein paar Blumenkästen aufgestellt, gegen die Zäune und Betonabsperrung kommen sie jedoch nicht an. Auch vor dem hawaiianischen Imbiss Wiki Wiki Poke steht so ein Betonklotz und ist Geschäftsführer Niklas Ludwig ein Dorn im Auge. Weil man auch vom Lieferservice lebe, sei man noch im Plan, erzählt er, aber gerade die Hotels litten sehr unter der Optik der Straße. Sprechen aber will dort niemand darüber, nur der Direktor des Hotels Excelsior in der Schützenstraße lässt wissen, dass man im Austausch mit der Stadt stehe und optimistisch sei, eine schnelle Verbesserung erwirken zu können.
Während die Schützenstraße in erster Linie die wirtschaftlichen Folgen der Situation plagen, sind es im Alten Botanischen Garten die sozialen. Unter anderem dorthin habe sich die Drogen-Szene verlagert, erzählt eine Frau, die selbst zu der Szene gehören dürfte. Sie steht vor einer Polizeistation am Bahnhof und hat einen kleinen Mops dabei, der ebenjenem festgenommenen Bekannten gehört, nachdem sie sich kurz zuvor lautstark erkundigt hatte. „Ist ja alles voll mit Baustellen am Bahnhof“, sagt sie noch, bevor sie telefonieren muss.
Im Alten Botanischen Garten essen zur Mittagszeit Anzugträger aus dem gegenüberliegenden Justizpalast am Neptunbrunnen unbeschwert aus kleinen Plastikboxen, während sich in den Büschen unweit davon zerzauste Männer gut sichtbar erleichtern. Es scheint auch so etwas wie Gewöhnungstendenzen zu geben, so wie bei Christian Lehner. „Es ist schon immer so, mit guten und schlechten Phasen, aber aktuell ist es besonders schlimm“, sagt der Betreiber des Parkcafé 089 im Alten Botanischen Garten. Bei ihm gebe es zwar keine Probleme, auch weil er und die Polizei sofort reagierten, aber die Kundschaft hadere schon. „Ich habe öfter gehört, dass Leute nicht kommen wollen, weil es unangenehm ist, durch den Park zu laufen, gerade im Dunkeln.“Seit 2016 appelliere er an die Stadt etwas zu tun, doch mal wieder reagiere man dort nur, wenn es schon zu spät ist.
Eine dieser Reaktionen ist die Verlängerung des Alkoholverbots am Hauptbahnhof, das 2019 vom Stadtrat beschlossen wurde und nun bis mindestens 2028 gilt. Als Konsequenz hatte die Caritas einst in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof das Begegnungszentrum D3 eingerichtet. Dort dürfen Menschen, die nicht anders können, Alkohol konsumieren, duschen und sich beraten lassen. „Ich finde nicht, dass es sich drastisch verändert hat“, sagt Angela Finzl, die stellvertretende Einrichtungsleiterin.
In anderen Großstädten würde man München beneiden, mit Berlin oder Hamburg sei es gar nicht vergleichbar. „Es ist ein bisschen Jammern auf hohem Niveau. Es gibt ein gutes Netzwerk hier am Bahnhof und viele Anlaufstellen für Bedürftige.“Eben weil es so viele gibt, leidet laut Polizei allerdings auch das Sicherheitsempfinden der Menschen in der Gegend. Die sozialen Versorgungsstützpunkte in unmittelbarer Nähe verschärften ungewollt die Situation, teilt das Polizeipräsidium mit.
Diese schwierige Gemengelage unter einen Hut zu bringen, ist die Aufgabe der Taskforce unter der Führung des Kreisverwaltungsreferats (KVR), mit der Reiter gegen die Missstände vorgehen will. Der Gruppe gehören alle weiteren relevanten Referate an, auch das Polizeipräsidium München, das selbst schon viele Maßnahmen umgesetzt hat. Konkretes scheint es noch nicht zu geben. Bisher habe man nur drei zu bearbeitende Bereiche identifiziert, heißt es aus dem KVR, die Situation in Parks, den öffentlichen Zugang zu privaten Liegenschaften wie Hinterhöfe und die „Verwahrlosungstendenzen“um den Hauptbahnhof samt der Leerstände. Diese Bereiche dürften schon viele Münchner und Besucher identifiziert haben.
Die Stadt reagiert erst dann, wenn es wieder mal zu spät ist.