Neu-Ulmer Zeitung

Der Münchner Hauptbahnh­of verkommt

Oberbürger­meister Dieter Reiter spricht von „Verwahrlos­ungstenden­zen“. Eine Spurensuch­e vor Ort offenbart, mit welch komplizier­ter Situation sich die Landeshaup­tstadt konfrontie­rt sieht.

- Von Florian Lang

München Eine Großbauste­lle nach der anderen, leerstehen­de Gebäudekom­plexe und eine vertrieben­e Drogen-Szene, die sich im Umfeld ihren Platz sucht – das meinte der Münchner Oberbürger­meister Dieter Reiter (SPD) also, als er von „Verwahrlos­ungstenden­zen“rund um den Hauptbahnh­of sprach. Reiter hatte sich selbst ein Bild gemacht, bei einer Exkursion mit der Polizei, die Schützenst­raße hinunter zum Stachus, vorbei am Justizpala­st und hin zum Alten Botanische­n Garten. Ihren Spuren folgend lassen sich diese Eindrücke nachempfin­den, jedoch auch erahnen, warum eine schnelle Verbesseru­ng schwierig werden dürfte. Einerseits werden die vielen Baustellen und Leerstände nicht kurzerhand verschwind­en, anderersei­ts ist die Stadt München gewisserma­ßen Leidtragen­de ihres erfolgreic­hen sozialen Engagement­s.

Besucher der Landeshaup­tstadt, die mit dem Zug ankommen, sehen derzeit vor lauter Baustellen den Bahnhof kaum. Im Empfangsge­bäude sind die Säulen der stählernen Halle großräumig eingezäunt, auch an beiden Ausgängen wird gebaut. Der Neubau schreitet voran, viel Platz ist nicht, schon gar nicht um die größte Baustelle, draußen am Bahnhofspl­atz. Dort gegenüber sollen die Leute eigentlich in Richtung Stachus durch die Schützenst­raße flanieren, doch die ist einem mitleiderr­egenden Zustand. Auf der nördlichen Straßensei­te steht jeder Gebäudekom­plex leer. In den ehemaligen Kaufhof zogen Obdachlose und Süchtige ein, erst vor Kurzem räumte die Stadt den Komplex und sperrte ihn mit Bauzäunen ab. Auf der südlichen Straßensei­te leiden die Verblieben­en trotzdem weiter.

„Hier kommen keine Leute mehr vorbei, es sieht schrecklic­h aus“, sagt Andjelico Kaser und deutet auf die Bauzäune. Der 35-Jährige ist Geschäftsf­ührer des Modeladens Vintage Revivals. Als sie noch nicht standen, sei es noch schlimmer gewesen, immer wieder habe er Ärger mit Betrunkene­n gehabt. „Wären wir nicht Teil einer Kette, müsste ich in zwei Monaten schließen, so sehr sind die Umsätze eingebroch­en.“Entlang der Straße hat die Stadt ein paar Blumenkäst­en aufgestell­t, gegen die Zäune und Betonabspe­rrung kommen sie jedoch nicht an. Auch vor dem hawaiianis­chen Imbiss Wiki Wiki Poke steht so ein Betonklotz und ist Geschäftsf­ührer Niklas Ludwig ein Dorn im Auge. Weil man auch vom Lieferserv­ice lebe, sei man noch im Plan, erzählt er, aber gerade die Hotels litten sehr unter der Optik der Straße. Sprechen aber will dort niemand darüber, nur der Direktor des Hotels Excelsior in der Schützenst­raße lässt wissen, dass man im Austausch mit der Stadt stehe und optimistis­ch sei, eine schnelle Verbesseru­ng erwirken zu können.

Während die Schützenst­raße in erster Linie die wirtschaft­lichen Folgen der Situation plagen, sind es im Alten Botanische­n Garten die sozialen. Unter anderem dorthin habe sich die Drogen-Szene verlagert, erzählt eine Frau, die selbst zu der Szene gehören dürfte. Sie steht vor einer Polizeista­tion am Bahnhof und hat einen kleinen Mops dabei, der ebenjenem festgenomm­enen Bekannten gehört, nachdem sie sich kurz zuvor lautstark erkundigt hatte. „Ist ja alles voll mit Baustellen am Bahnhof“, sagt sie noch, bevor sie telefonier­en muss.

Im Alten Botanische­n Garten essen zur Mittagszei­t Anzugträge­r aus dem gegenüberl­iegenden Justizpala­st am Neptunbrun­nen unbeschwer­t aus kleinen Plastikbox­en, während sich in den Büschen unweit davon zerzauste Männer gut sichtbar erleichter­n. Es scheint auch so etwas wie Gewöhnungs­tendenzen zu geben, so wie bei Christian Lehner. „Es ist schon immer so, mit guten und schlechten Phasen, aber aktuell ist es besonders schlimm“, sagt der Betreiber des Parkcafé 089 im Alten Botanische­n Garten. Bei ihm gebe es zwar keine Probleme, auch weil er und die Polizei sofort reagierten, aber die Kundschaft hadere schon. „Ich habe öfter gehört, dass Leute nicht kommen wollen, weil es unangenehm ist, durch den Park zu laufen, gerade im Dunkeln.“Seit 2016 appelliere er an die Stadt etwas zu tun, doch mal wieder reagiere man dort nur, wenn es schon zu spät ist.

Eine dieser Reaktionen ist die Verlängeru­ng des Alkoholver­bots am Hauptbahnh­of, das 2019 vom Stadtrat beschlosse­n wurde und nun bis mindestens 2028 gilt. Als Konsequenz hatte die Caritas einst in unmittelba­rer Nähe zum Hauptbahnh­of das Begegnungs­zentrum D3 eingericht­et. Dort dürfen Menschen, die nicht anders können, Alkohol konsumiere­n, duschen und sich beraten lassen. „Ich finde nicht, dass es sich drastisch verändert hat“, sagt Angela Finzl, die stellvertr­etende Einrichtun­gsleiterin.

In anderen Großstädte­n würde man München beneiden, mit Berlin oder Hamburg sei es gar nicht vergleichb­ar. „Es ist ein bisschen Jammern auf hohem Niveau. Es gibt ein gutes Netzwerk hier am Bahnhof und viele Anlaufstel­len für Bedürftige.“Eben weil es so viele gibt, leidet laut Polizei allerdings auch das Sicherheit­sempfinden der Menschen in der Gegend. Die sozialen Versorgung­sstützpunk­te in unmittelba­rer Nähe verschärft­en ungewollt die Situation, teilt das Polizeiprä­sidium mit.

Diese schwierige Gemengelag­e unter einen Hut zu bringen, ist die Aufgabe der Taskforce unter der Führung des Kreisverwa­ltungsrefe­rats (KVR), mit der Reiter gegen die Missstände vorgehen will. Der Gruppe gehören alle weiteren relevanten Referate an, auch das Polizeiprä­sidium München, das selbst schon viele Maßnahmen umgesetzt hat. Konkretes scheint es noch nicht zu geben. Bisher habe man nur drei zu bearbeiten­de Bereiche identifizi­ert, heißt es aus dem KVR, die Situation in Parks, den öffentlich­en Zugang zu privaten Liegenscha­ften wie Hinterhöfe und die „Verwahrlos­ungstenden­zen“um den Hauptbahnh­of samt der Leerstände. Diese Bereiche dürften schon viele Münchner und Besucher identifizi­ert haben.

Die Stadt reagiert erst dann, wenn es wieder mal zu spät ist.

 ?? Foto: Arnulf Hettrich, Imago ?? Nicht schön: Die Zustände am und rund um den Münchner Hauptbahnh­of.
Foto: Arnulf Hettrich, Imago Nicht schön: Die Zustände am und rund um den Münchner Hauptbahnh­of.

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