Zwölf Schicksale, die bewegen
Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt in Ulm weitere Stolpersteine. In einem Fall wird besonders deutlich, dass die durch die Nazis ermordeten Menschen nicht sämtlich vergessen sind.
Ulm/Neu-Ulm Es regnet in Strömen bei der Stolpersteinverlegung. Ursula Maucher trägt zwei Fotos bei sich, die Jahrzehnte überdauerten. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen einen älteren Herrn im feinen Zwirn und runder Nickelbrille. Auf einem Foto lächelt der Mann. Die Ulmerin Jahrgang 1936 hat die Fotos von ihrer Mutter bekommen und sie weiß, wer darauf zu sehen ist: Julius Salomon, der 1887 geboren wurde, und an Heiligabend 1942 in Theresienstadt ermordet.
Als Dreijährige war Ursula Maucher Ende der Dreißigerjahre immer wieder Gast in der Ensingerstraße 3. Hier wohnten, in einem längst zerstörten Jugendstilhaus, einst Dr. Ernst Moos und Julius Salomon, die beide Opfer der Nazis wurden und an die jetzt je ein Stolperstein erinnert. Die Mutter von Ursula Maucher kannte durch ihren Arbeitgeber Julius Salomon. „Ich war hier nur das Mädele“, sagt Maucher. Die kann sich freilich nicht mehr erinnern, doch so habe es ihr die Mutter berichtet.
Salomon war Eigentümer des Hauses Ensingerstraße 3, das 1939 in ein „Judenhaus“umgewandelt wurde und hatte Beteiligungen an Firmen. Am wichtigsten war die Beteiligung bei dem Bekleidungsgeschäft L.G. Wallersteiner, hier arbeitete auch die Mutter von Ursula Maucher. Im Rahmen der Arisierung jüdischer Geschäfte mussten die Teilhaber die Firma 1938 weit unter Wert an die Firma Conzelmann & Co. verkaufen.
Der andere Stolperstein vor der Ensingerstraße 3 erinnert an Dr. Ernst Moos. Als er Mitglied des Vorstands der jüdischen Kultusvereinigung Württemberg wurde, geriet er ins Blickfeld der Nationalsozialisten, die gezielt Juden wie ihn auf perfide Weise missbrauchten, um die Auswanderung, dann immer mehr die Konzentration der Juden in „Judenhäusern“sowie letztlich die Deportation in die Konzentrationslager organisatorisch abzuwickeln. 1938 wurde ihm die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen, aber er konnte als Rechtskonsulent für Juden weiter arbeiten. Als die Nazis die Kultusvereinigung für ihre Zwecke nicht mehr brauchten, wurde sie am 10. Juni 1943 aufgelöst. Ernst Moos wurde verhaftet und am 18. Juni 1943 nach Theresienstadt
deportiert, später in Auschwitz ermordet. Sie durften nicht erleben, wie das „Mädele“groß wurde.
Der ehemalige Leiter des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg, Silvester Lechner, wies darauf hin, dass Ernst Moos zu Lebzeiten den Glauben an den Rechtsstaat verkörperte. In einen „entwickelten Rechtsstaat hineingeboren“, war er in vielen Vereinen engagiert, etwa dem Mieterschutzbund. Er sei nach 1933 so etwas wie der letzte Repräsentant zur staatlichen Orientierung der jüdischen Gemeinde gewesen. Selbst als die Deportationen anfingen, fungierte er als so etwas wie eine Auskunftsstelle. „Er fühlte sich als Repräsentant des Staates und der letzten Ordnung.“Dass der „staatsorientierte“Moos in gewisser Weise von den Nazis instrumentalisiert wurde, sei eine „entsetzliche Pointe“.
Der Ortsrabbiner Shneur Trebnik nahm ebenfalls Bezug auf die Anwaltstätigkeit von Ernst Moos.
„Als Anwalt vertraut man dem Rechtsstaat“. Moos habe irgendwann in Ulm erleben müssen, wie der Rechtsstaat aufgelöst wurde. Der Anwalt Moos wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Vor diesem Hintergrund erinnert Trebnik daran, dass bis 1987 der Anwalt Gerhard Klopfer unbehelligt in Ulm eine Kanzlei betrieb, der Teilnehmer der Wannsee-Konferenz war. Bei diesem Zusammentreffen besprechen am 20. Januar 1942 fünfzehn hochrangige Vertreter der SS, der NSDAP und verschiedener Reichsministerien die Kooperation bei der geplanten Deportation und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden. „Wir erleben in den letzten Monaten, Wochen, Tagen, wie Menschen versuchen die Demokratie in die falsche Richtung zu lenken.“
Der Künstler und Initiator des Kunstprojektes, Gunter Demnig, verlegte am Dienstag insgesamt zwölf Stolpersteine an fünf Stellen. Die Erinnerungen galten verschiedenen Opfergruppen. Am Roten
Berg/Ecke Kellerhalde, Söflingen wurden gleich sieben Steine verlegt. Sie erinnern an eine ermordete Sinti-Familie: Die Ecksteins gehörten zu einem weit verzweigten Netzwerk von Sinti Musikerfamilien.
In der Schwilmengasse 14 erinnert seit Dienstag ein Stolperstein an den gebürtigen Neu-Ulmer Friedrich Bürzele, der evangelische
Mann wurde ermordet, weil er als arbeitsunwillig angesehen wurde. Auch an Katharina Ruopp in der Söflinger Uhrenmachergasse 21, erinnert ein Stein. Sie passte mit ihrer psychischen Erkrankung nicht ins Weltbild der Nazis. Ein weiterer Stein liegt jetzt vor der Hauptstraße 44 in Ulm-Wiblingen. Auch Maria Knoll wurde deswegen von Nazis ermordet.