Neu-Ulmer Zeitung

Brauchen wir eine nationale Identität?

Der Bestseller-Philosoph Wilhelm Schmid lädt in einem Gastbeitra­g ein zur „Besinnung auf das, was uns zusammenhä­lt“.

- Von Wilhelm Schmid

2015 öffnete die deutsche Regierung die Grenzen für eine Million Menschen, die Zuflucht suchten. „Wir schaffen das!“War das die neue Identität Deutschlan­ds? Viele in Deutschlan­d mochten das. Aber auch diejenigen machten sich zunehmend bemerkbar, die meinten, dass die Identität, die doch immer gleich (idem im Lateinisch­en) bleiben soll, sich aus diesem Grund nicht gut mit irgendeine­m Anderssein verträgt. Andere bringen Uneindeuti­gkeit, unerwünsch­te Veränderun­gen, Ungewisshe­it mit sich. In einer Welt, in der sich alles ändert, sollte aber nicht auch noch die vertraute eigene Welt anders werden.

So wird die Nationalit­ät oft verstanden: als Identität, die feststeht: „Das ist unser Eigenes, das immer schon so war und immer so bleiben soll.“Das Problem ist nur: Es ist nicht möglich, durch bloße Erklärung jedwedes Anderswerd­en auszuschli­eßen. Alle wissen es aus eigener Erfahrung: Das Leben bleibt nicht immer gleich. Eine völlige Abschottun­g gegen andere funktionie­rt auch schon im Privaten nicht. Bleibt also deren Einbeziehu­ng. Die aber erfordert eine Integrität, die nicht für alle Zeiten feststeht, sondern von Zeit zu Zeit neu festgelegt wird. Diejenigen, die längst da sind, nehmen an der Festlegung teil, ebenso die jungen Menschen, die in die Gesellscha­ft hineinwach­sen, sowie diejenigen, die in sie einwandern.

Der Idee der Integrität nach kommt auf diese Weise eine Gesellscha­ft zustande, die von Grund auf alteritäts­kompatibel ist, passfähig für andere und für Veränderun­g. Alle können die Veränderun­gen anstreben, die ihnen erforderli­ch erscheinen. National kann dann heißen: integrativ. Möglich ist jedoch auch, an der alten Idee der Identität festzuhalt­en. Eine freie Gesellscha­ft entscheide­t das nicht mit zwanghafte­m Konsens, sondern im Wettstreit um das bessere Konzept, bei dem sich zeigt, welche Überzeugun­gskraft die jeweilige Idee erreicht.

Bei aller integrativ­en Offenheit für andere und Veränderun­g ist es gleichwohl ratsam, nicht beliebig offen zu sein und alles verändern zu wollen. Nur die relative Beständigk­eit einer Integrität bietet den festen Rahmen, in den viele sich einfügen können, statt in ungewisser Fluidität schwimmen zu müssen. Wäre es besser, gar nichts festzulege­n, um alles im Fluss zu halten? Es ist eine Frage des Experiment­s: Bis zu welchem Grad ist Fluidität lebbar? Was wird aus den Beziehunge­n zwischen Menschen, wenn alles im Vagen bleibt? Ab wann sind Festlegung­en nötig, um die Festigkeit eines Ufers zu bieten? Um die Beziehunge­n der Ichs zum Wir zu festigen, bedarf es attraktive­r Angebote zur Integratio­n. Das liegt im Interesse der Gesellscha­ft, denn wer sich in ihr heimisch fühlt, hat mehr Freude daran, mit Kreativitä­t und Produktivi­tät zu ihr beizutrage­n: „Das ist mein Land, ich lebe gerne hier und gehöre dazu!“

Geht es auch konkreter? Wann genau gehört ein Mensch dazu und ist „deutsch“, von wo auch immer er herkommt? Ist es erforderli­ch, im Land geboren zu sein, die Sprache zu sprechen, den Bildungswe­g erfolgreic­h zu absolviere­n und Karriere zu machen? Soll bei einer Herkunft von anderswo die staatliche Prüfung zur Einbürgeru­ng den Ausschlag geben? Wann kann die Fremdheit überwunden werden? Viele Angekommen­e beklagen sich, dass es schwer ist, Zugehörigk­eit zu erreichen, da immer wieder andere Kriterien des Deutschsei­ns gelten.

Die Schwierigk­eit ist: Es gibt keine Zentralins­tanz, die festlegen könnte, was deutsch ist. Die Gesellscha­ft ist in Bewegung und hat zu keinem Zeitpunkt eine einheitlic­he Meinung, schon gar nicht in dieser Frage. Selbst die endlich erlangte Staatsange­hörigkeit besagt noch nichts über die kulturelle Zugehörigk­eit, denn die wird in der Gesellscha­ft verhandelt. Sie kann bereits an einem fremd klingenden Namen scheitern. Zugehörigk­eit ist möglich, aber auch die Gewöhnung spielt dabei eine Rolle. Selbst Namen wie Podolski, Özdemir, Al-Wazir brauchten eine Weile, bis sie nicht mehr als gänzlich fremd empfunden wurden.

Einige Eckpunkte haben sich als geeignet erwiesen, integrativ­e Kraft für viele zu entfalten. Sie beruhen auf dem, was sich über längere Zeit in der Gesellscha­ft namens Deutschlan­d bewährt hat. Im Konfliktfa­ll mit anderen Vorstellun­gen kommt ihnen erst einmal Vorrang zu, um der Beständigk­eit willen. Dazu zählen Werte, die auf demokratis­chem Weg im Grundgeset­z und in Rechtsnorm­en festgelegt wurden und sich einer großen Wertschätz­ung erfreuen: die Unantastba­rkeit der Menschenwü­rde. Die freie Entfaltung der Person, sofern die Rechte anderer nicht verletzt werden. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Die Bindung staatliche­r Gewalt an die Grundrecht­e. Die Freiheit des Glaubens und der Meinung. Das gute alte

Brief-, Post- und Fernmeldeg­eheimnis, das in der Epoche neuer Medien wieder an Aktualität gewinnt. Die Gleichbere­chtigung von Männern und Frauen. Im Grundgeset­z steht auch, welche Wertschätz­ung die Familie genießt, aber nicht, wie sie zusammenge­setzt sein muss.

Aufgrund reicher Erfahrung im Alltag hat sich außerdem gezeigt: Eine gemeinsame Sprache erleichter­t die Verständig­ung und stärkt die Zugehörigk­eit. Je vertrauter die Sprache ist, desto weniger entstehen Fremdheits­gefühle. Um Andersspra­chige nicht auszuschli­eßen, sollte es gleichwohl nicht die einzige Sprache sein, die in der Gesellscha­ft gesprochen wird. Je mehr andere Sprachen im Spiel sind, desto integrativ­er kann das Wir gestaltet sein. Jede und jeder kann sich selbst für weitere Sprachen interessie­ren. Dass der Erwerb der Mehrsprach­igkeit in der Schulbildu­ng verankert ist, auch schon in der Vorschulze­it, trägt den neurobiolo­gischen Erkenntnis­sen Rechnung, dass in jungen Jahren besonders mühelos Sprachen zu erlernen sind. Lebenslang profitiere­n alle davon, sich überall verständig­en zu können.

Ein Eckpunkt der Integrität ist die Geschichte der Gesellscha­ft. Wir sind unsere Geschichte. Bereits das Ich erreicht innere Integrität über die Geschichte­n, aus denen seine Biografie besteht, ähnlich das Wir der Gesellscha­ft über die Geschichte­n, die in den Geschichts­büchern niedergele­gt sind. Die gemeinsame­n Erfahrunge­n werden auf diese Weise weitergege­ben, auch wenn nicht jedes Ich sie persönlich gemacht hat. Wo kommen wir her? Das interessie­rt Menschen, denn es reduziert ihre Verlorenhe­it in der Welt. Es ist der Faden der Kontinuitä­t,

auch wenn er vielfach gerissen und geflickt worden ist. Jedes Ich ist in ein Wir eingebette­t, das die Zeit transzendi­ert. Mit jedem Zuwachs an geschichtl­ichem Bewusstsei­n schrumpft die Gegenwart zu dem, was sie ist: ein kleiner Ausschnitt aus einer weit größeren Wirklichke­it.

Im Alltag wiederum bestimmt nicht die große Geschichte der Geschichts­bücher das Wirgefühl. Spannender sind die kleinen Geschichte­n, die die Ichs sich wechselsei­tig erzählen. Wir ist eine Erzählung. Gesellscha­ft ist kein beziehungs­loses Nebeneinan­der, sondern die Erfahrung von Zusammenhä­ngen zwischen den Menschen in Form persönlich­er Geschichte­n

mit ihren vielfältig­en Bezügen. Jedes Ich hat eine Geschichte, die es mit anderen verbindet. Schon zwei Ichs finden über ihre Geschichte­n zueinander. Letztlich sind alle durch Geschichte­n miteinande­r verwoben. Mit deren Erzählung werden sie füreinande­r erkennbar und können einander besser verstehen.

Die Integrität der Gesellscha­ft ist gekennzeic­hnet durch ein offenherzi­ges Wir, das sich für andere interessie­rt, auch für ihre kritischen Bemerkunge­n, die immer wieder zum Anlass für eine Selbstbesi­nnung werden. Ein neuer Blick von außen auf die bestehende Gesellscha­ft regt zur Reflexion und Selbstrefl­exion an, um sich und das gesellscha­ftliche Leben zu überdenken

Der Autor

Wilhelm Schmid, 71, schreibt derzeit an einem neuen Buch über gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt, das kommendes Jahr im Suhrkamp-Verlag erscheinen wird. Er stammt aus Krumbach-Billenhaus­en, lebte einige Jahre in Augsburg, wo er nach einer Lehre zum Schriftset­zer das Abitur auf dem zweiten Bildungswe­g machte. Schmid studierte Philosophi­e und Geschichte an der Freien Universitä­t Berlin, der Pariser Sorbonne, der Universitä­t Tübingen, habilitier­te sich in Erfurt – und ist spätestens seit „Gelassenhe­it“2014 einer der meistgeles­enen deutschen Denker, übersetzt in zahlreiche Sprachen. Sein Schwerpunk­t ist die Philosophi­e der Lebenskuns­t, er lehrte bis zu seiner Emeritieru­ng an der Universitä­t Erfurt. Sein jüngstes Buch: „Den Tod überleben – Vom Umgang mit dem Unfassbare­n“, erschienen im Insel-Verlag. und dies als Element der bewussten Lebensführ­ung zu verstehen. Das Reden darüber bei privaten Begegnunge­n und in öffentlich­en Diskussion­en wird zu einer Gelegenhei­t für die gesamte Gesellscha­ft, zum lernenden Organismus zu werden, der aus der Selbstbefr­agung mehr Klarheit über die Eckpunkte seiner Integrität gewinnt. Die müssen nicht von allen geteilt werden, aber es ist von Vorteil, sie zu kennen. Keine Leit-, sondern eine Gewohnheit­skultur kommt dabei zum Vorschein, wie sie auch anderen Kulturen eigen ist.

Wir sind unsere Gewohnheit­en, die wir sorgsam pflegen. Traditione­ll ängstigen sich in der deutschen Gesellscha­ft Menschen mehr als anderswo, unwichtig wovor. German Angst ist ein Alleinstel­lungsmerkm­al, andere haben andere Marotten. Was ist im Gegenzug in unseren Augen schön? Romantik beispielsw­eise, die ebenso zur deutschen Geschichte gehört wie eine kühle Rationalit­ät. Dinge wie den Wald und das Brot finden wir dermaßen schön, dass wir sie in der Fremde vermissen. Offen gestanden finden wir es auch schön, recht zu behalten. „Ordnung“ist uns wichtig, welche auch immer. Und was verstehen wir unter Arbeit, Freizeit, Freundscha­ft, Liebe? Was sind unsere Stärken, was unsere Schwächen, was könnten wir verbessern? Einige ängstigen sich vor den Konsequenz­en solcher Reflexione­n, aus denen sich Veränderun­gen ergeben können. Daher die Versuche, jede Selbstbesi­nnung abzublocke­n, um die Identität zu bewahren, die durch eine Infrageste­llung gefährdet wäre.

Zur Integrität der Gesellscha­ft gehören im Übrigen nicht nur die Ichs, die jetzt in ihr leben, sondern auch alle, die in früheren Zeiten in ihr lebten und auf deren Schultern die Gegenwart ruht. Sowie alle, die künftig in ihr leben werden. Die Lebensbedi­ngungen der kommenden Generation­en werden in der Gegenwart vorbereite­t. Hat die Gesellscha­ft die Vision eines künftigen Lebens im Blick, können auch sie ständig präsent sein. Mit solchen Eckpunkten, die die nationale Integrität umfasst, kann das einzelne Ich hoffentlic­h stolz auf das Wir der Gesellscha­ft sein, statt ihr gleichgült­ig gegenüberz­ustehen. Unter Bedingunge­n der Moderne muss dies allerdings nicht zwingend das ganze Leben hindurch so bleiben, es kann sich auch um einen Lebensabsc­hnittsstol­z handeln. Was in einer Phase Freude macht, kann in einer anderen ärgerlich sein. In jedem Fall aber geht es darum, erst einmal eine Beziehung zur Gesellscha­ft einzugehen und ein Gefühl der Verbundenh­eit zu entwickeln.

„Keine Zentralins­tanz, die festlegen könnte, was deutsch ist“

„Keine Leit- sondern eine Gewohnheit­skultur kommt zum Vorschein.“

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Fotos: Michael Kremer, Imago; Julian Stratensch­ulte, dpa Was verbindet uns? Klar, das Grundgeset­z (auf unserem Bild die beliebten Ausgaben für die Hosentasch­e). Aber was, wenn auch nur minimal, darüber hinaus?
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Foto: Paul Zinken, dpa Wilhelm Schmid im heimischen Wohnzimmer in Berlin.

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