„Mit den Bürgerbewegten der friedlichen Revolution verband Kohl nichts“
Gerd Poppe war ein prominenter Kopf der Opposition gegen die SED-Diktatur. Das DDR-Regime wurde gestürzt – und kurz gab es die Hoffnung auf eine gemeinsame deutsche Verfassung. Warum es nicht dazu kam.
Herr Poppe, als Bürgerrechtler waren Sie während der friedlichen Revolution in der DDR an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beteiligt. Warum war das Ihnen und der Bürgerrechtsbewegung im Herbst 89 wichtig? Am Horizont erschien schon die Wiedervereinigung, die Bundesrepublik hatte mit dem Grundgesetz eine funktionsfähige Verfassung.
Gerd Poppe: Die letzte 1989/1990 noch gültige DDR-Verfassung hatte als oberstes Prinzip die „führende Rolle der SED“. Und obwohl dieser Passus noch im Herbst 1989 gestrichen wurde, war der gesamte Verfassungstext durch dieses Prinzip kontaminiert. Grundrechte waren zwar – auf hinteren Seiten – noch erwähnt, wobei sie gänzlich unter gesetzlichen Vorbehalt gestellt waren. Somit war, nach der Revolution im Oktober und dem Umsturz der Mauer im November, dem auf Betreiben der DDR-Oppositionsgruppen einberufenen zentralen Runden Tisch von Anbeginn klar, dass in einem demokratischen Gemeinwesen für dieses SED-Konvolut keinerlei Grundlage mehr existiert.
Der DDR-Opposition wurde vorgeworfen, mit den Arbeiten an einer neuen Verfassung den Fortbestand der DDR verlängern zu wollen …
Poppe: Nichts ist unzutreffender als diese Behauptung. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches enthält ein ausdrückliches Bekenntnis zur Herstellung der deutschen Einheit. Die große Mehrheit der Bürgerbewegten wünschte die Wiedervereinigung, allerdings wollte sie gehört und beteiligt werden. Verhandlungen sollten auf Augenhöhe geschehen, deshalb erhielt auch die Verfassungsdebatte eine solche Bedeutung. Deshalb waren wir für eine neue Verfassung für das wiedervereinigte Deutschland nach Artikel 146 des Grundgesetzes und nicht für den Beitritt des Ostens nach Artikel 23.
Bis heute ist immer wieder zu lesen, dass die DDR-Oppositionellen eigentlich einen dritten Weg gehen wollten zwischen Kapitalismus und Kommunismus und aus diesem Grund eine reformierte DDR anstrebten. Ist es so gewesen?
Poppe: Es gab auch unter manchen DDR-Oppositionellen solche Ideen, allerdings blieben sie in einer vernachlässigbaren Minderheit. Der sogenannte Dritte Weg und die Fortexistenz der DDR waren vor allem Forderungen der SED-Nachfolgepartei. Aber auch bei diversen Linken in der alten Bundesrepublik gab es ähnliche Wünsche. So manche hatten sich die SED-Diktatur
schöngeguckt, nur leben wollten sie dort nicht, der ToscanaUrlaub war wichtiger.
Weshalb hatte der schließlich im April 1990 vorgelegte Entwurf für eine demokratische Verfassung keine Chance mehr, Kraft und Gültigkeit zu erlangen?
Poppe: Das Scheitern des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches steht in engem Zusammenhang mit den ersten und einzigen freien Wahlen zur Volkskammer der DDR im März 1990. Der eigentliche Wahlsieger hieß Helmut Kohl. Als Verbündete hatte er sich die Blockpartei CDU-Ost ausgesucht, die 40 Jahre lang nichts anderes gemacht hatte, als den Vorgaben
der SED zu folgen. Mit den Bürgerbewegten und Akteuren der friedlichen Revolution verband Kohl nichts, er ignorierte sie einfach. Er hat zwar manch schöne Floskel in seine Reden eingebaut, wonach ein wiedervereinigtes Deutschland zumindest eine überarbeite Verfassung bekommen sollte, letztlich blieb das aber folgenlos. Entscheidend war Kohls Versprechen einer frühen Währungsunion, das war sein wichtigster Beitrag im Wahlkampf für die Ost-CDU.
Das war das Ende der Verfassungsträume?
Poppe: Sein Versprechen hat Kohl mit der Vorstellung zum Beitritt der Ost-Bundesländer nach Artikel 23 verknüpft, so als ob das eine nicht ohne das andere zu haben sei. Der überraschend hohe Wahlsieg der CDU bei den Volkskammerwahlen am 18. März ist sicher eine direkte Folge von Kohls Ankündigung. Die Mehrheit der ostdeutschen Wähler hat nicht die Demokratie, sondern die D-Mark gewählt. Die Mehrheit der frei gewählten Abgeordneten lehnte dann die weitere Befassung mit dem Entwurf ab, ohne überhaupt zu wissen, wovon die Rede ist. Ein Armutszeugnis für ein demokratisch gewähltes Parlament, welches ja ansonsten durchaus wichtige und lebendige Debatten geführt hat.
De facto galt doch damit weiter die alte DDR-Verfassung?
Poppe: Im Grunde genommen blieb die DDR in den ihr verbleibenden Monaten in einem verfassungslosen Zustand. Die SED-Verfassung war formal noch gültig – aber sie wurde nicht mehr beachtet. Eine neue Verfassung wurde nicht gewünscht. Das führte zu manchen Kuriositäten: Der gewählte Ministerpräsident Lothar de Maizière weigerte sich, sich gemäß der Formulierung der SEDVerfassung vereidigen zu lassen. Nach langer Ratlosigkeit fand man folgende Lösung: Er sprach die Eidesformel aus dem Entwurf des Runden Tisches, dem ja seine Mehrheitsfraktion gerade die weitere parlamentarische Befassung verweigert hatte.
Immerhin gab es noch das Versprechen, dass sich der Bundestag nach vollzogener Einheit der Verfassungsfrage annehmen würde …
Poppe: Im Juni 1991 stellte das ein Jahr zuvor gegründete „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“in der Frankfurter Paulskirche einen gesamtdeutschen Verfassungsentwurf vor. Dieser blieb unberücksichtigt. Ende 91 ist dann die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat einberufen worden. Sie arbeitete bis 1993 und legte dann ein dürres Ergebnis vor. Es war weder eine neue Verfassung noch eine der welthistorischen Bedeutung von deutscher Einheit und dem Ende des Kalten Krieges gerecht werdende Überarbeitung des Grundgesetzes. Nur weniges wurde verändert oder ergänzt, beispielsweise wurde der Tierschutz in das Grundgesetz eingefügt. Am wichtigsten waren wohl die Änderungen, die wegen der notwendigen Abgabe von Hoheitsrechten an die Europäische Union erforderlich waren und unter anderem als neuer Artikel 23 eingefügt wurden. Die Arbeitsweise der Gemeinsamen Kommission war aus Sicht der Bürgerbewegungen unbefriedigend.
Woran lag das?
Poppe: Die Mehrheitsverhältnisse ermöglichten uns nicht, unseren Vorschlägen das nötige Gewicht zu verleihen. Wir waren nur acht Abgeordnete. Für uns war Wolfgang Ullmann Kommissionsmitglied, ich war Stellvertreter und nur selten beteiligt. Ullmann hat immer wieder versucht, Artikel in die Diskussion einzubringen. Nur äußerst selten wurde das ernst genommen, oft ohne weitere Diskussion einfach abgeschmettert. Ullmann verließ schließlich die Kommission unter Protest und ich natürlich mit ihm. Die Chance einer Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes gab es damals nicht, weil der politische Wille der Bundestagsmehrheit von CDU/CSU/FDP dafür einfach nicht vorhanden war, und ein besonderes Engagement SPD-geführter Landesregierungen auch nicht erkennbar war.
Hätte eine gemeinsam erarbeitete Verfassung den Ostdeutschen das Ankommen in dem für sie neuen Land leichter machen können? Poppe: Vielleicht hätte eine Verfassungsgebung mit anschließendem Volksentscheid einen kleinen Baustein liefern können zur Verwandlung des in der Diktatur bevormundeten Staatsbürgers in den mündigen Bürger eines demokratischen Rechtsstaates. Er wäre an einer wichtigen Entscheidung beteiligt gewesen, hätte eine Möglichkeit gehabt, sich dadurch mit den neuen Gegebenheiten vertraut zu machen, sich vielleicht sogar damit zu identifizieren. Ich bin mir allerdings auch nicht sicher. Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass offenbar eine große Zahl von Menschen für die Demokratie verloren ist. Das ist überall so, aber in Bundesländern, in denen nicht-demokratische Parteien Mehrheiten erreichen, wirklich dramatisch.
Interview: Christian Grimm
Zur Person
sehr viel älteren, verheirateten Schriftsteller in den letzten Jahren der DDR in Ostberlin. Das von der gemeinsamen Liebe zu Musik und Kunst beflügelte Verhältnis der beiden geht jedoch in die Brüche, so wie auch der Staat um sie herum im Zerfall begriffen ist. Es gebe gerade jetzt in Amerika und in England ein Nachdenken darüber, ob man aus dem Kapitalismus herauskomme, sagte Erpenbeck kürzlich im rbb-Inforadio. „Und es gibt tatsächlich ein großes Interesse daran, zu verstehen, woran zum Beispiel diese vermeintliche Alternative DDR gescheitert ist“.
Erpenbeck wurde 1967 in Ostberlin geboren. Nach einer Buchbinderlehre studierte sie Theaterwissenschaft und Musiktheaterregie. Auf Regiearbeiten am Opernhaus in Graz und in Berlin folgte 1999 Erpenbecks Schriftstellerdebüt mit der Novelle „Geschichte vom alten Kind“. Beim International Booker Prize werden fremdsprachige Werke ausgezeichnet, die ins Englische übersetzt wurden – was nach wie vor selten bei deutscher Literatur ist, so der PenguinVerlag. Die Gründe seien vielfältig, einer davon: „Man sagt dem Deutschen nach, besonders schwer übersetzbar zu sein.“(dpa)