Ein Mord, der nicht vergessen werden soll
12.252 Tage nachdem der Ulmer Rafael Blumenstock im Herzen Ulms bestialisch ermordet wurde, hat der Gedenkstein einen neuen Platz. Bewegend sind die Worte seines Bruders.
Ulm Die Mutter des Ermordeten will nicht kommen zur Einweihung der neuen Gedenkstelle „Sie sagt immer, das bringt den Rafael auch nicht zurück.“Das sagt ein anderer Sohn, Alvaro Blumenstock, der fast fünf Jahre ältere Bruder von Rafael.
In der Nacht zum 4. November 1990 wurde der damals 28-jährige Rafael Blumenstock auf dem Münsterplatz ermordet. Das brutale Verbrechen an dem jungen Klavierlehrer hat vor 33 Jahren die gesamte Stadt erschüttert. Nach wie vor sind der oder die Täter nicht ermittelt.
Eine Gedenktafel am Rande des Münsterplatzes in der Nähe des Tatorts erinnert seitdem an das Opfer. Die Granitplatte, die von Rafael Blumenstocks inzwischen verstorbenem Vater, der lange Lehrer am Ulmer Scholl-Gymnasium war, gestaltet worden war, wurde nun stärker hervorgehoben. Dazu wurde der rotbraune, in der Mitte gespaltene Stein mit der Inschrift „Du lebst in unserer Klage – im Herzen stirbst du nicht – Rafael Blumenstock, ermordet am 4.11.1990“auf eine 60 Zentimeter hohe Stele montiert. Der Aufstellort der Stele ist nur wenige Meter vom ursprünglichen Standort entfernt.
„Ich finde es gut, dass an diesen tragischen sinnlosen Tod erinnert wird“, sagt Alvaro Blumenstock, der vier Brüder hatte. Einer davon war Rafael, sein mittlerer Bruder. Rafael habe aber immer gesagt, dass er eine Frau ist. Er habe sich vollkommen als Frau gefühlt, sei als Marlene Dietrich oder Zarah Leander auf Ulmer Kleinkunstbühnen aufgetreten. Heutzutage würde er als Transgender gelten, ein Begriff, der damals noch nicht üblich war.
Alvaro Blumenstock (66) sieht deswegen die Gedenkstelle an den Mord an seinem Geschwister auch als ein Mahnmal für Toleranz. „Rafael war damals verzweifelt, dass niemand ihn verstanden hat.“Das Thema Geschlechtsumwandlung sei erst kurz vor seiner Ermordung aufgekommen. In seinem Tagebuch habe sich Rafael als „das einzige Mädchen der Familie“bezeichnet. Gepaart mit einem Versprechen, eines Tages seine betagten Eltern zu pflegen. Er habe ein großes Herz für Außenseiter der Gesellschaft gehabt. „Ein herzensguter Mensch – im falschen Körper.“
Der Mord am ehemaligen Schüler des Humboldt-Gymnasiums wurde nie aufgeklärt. Ermittelt wurde ihn viele Richtungen, ohne Erfolg. Die besondere Brutalität des Tathergangs ließ schon viele Kriminalisten spekulieren, dass hier außerordentlich viel Hass im Spiel war. Vermutlich Hass auf einen Menschen, der nicht der Norm entsprach.
Der Mutter von Rafael, Dolores Blumenstock, die am Ulmer Theater tätig war, wurde das Herz gebrochen. Auch deswegen, so sagt es Alvaro Blumenstock, habe sie auch die Thematisierung in Sendungen wie „Aktenzeichen XY ungelöst“abgelehnt, um mit dem Thema irgendwie abschließen zu können. Alvaro Blumenstock, bis vor Kurzem noch Lehrer in Heidelberg, hingegen, hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass der oder die Mörder doch noch gefunden werden. Dass solche Verbrecher „noch irgendwo rumlaufen“sei unerträglich.
Ulms Oberbürgermeister Martin Ansbacher bezeichnet die Einweihung der neuen Gedenkstelle, die noch von seinem Amtsvorgänger Gunter Czisch begonnen wurde, als einen „ganz wichtigen Termin“. Denn es sei eine gesellschaftliche Pflicht und Verantwortung, dieses Gedenken hochzuhalten. Rafael Blumenstock sein ein „im positiven Sinne des Wortes schräger Mensch gewesen“, der sich „keiner Gruppe zuordnen ließ“. Die damalige Stadtgesellschaft sei mit dem Thema Vielfalt noch anders umgegangen, wie „wir heute“– „um es mal vorsichtig zu umschreiben“.
Gerade deswegen sei die Gedenktafel ein „sehr wichtiger Ort von Ulm“. Dieses Denkmal stehe für das klare Bekenntnis der Stadtgesellschaft für Vielfalt und Toleranz. Ansbacher: „Ich möchte in einer Stadt leben, in dem Sie oder Er einfach sein kann, wie Er oder Sie es will.“Diese Werte müssten verteidigt werden, anderen Tendenzen müsse die Gesellschaft „entschlossen entgegentreten“.