Wie sich Deutschland die Staatsschulden schönrechnet
In der Diskussion über die Schuldenbremse wird oft auf die niedrige Verschuldung der Bundesrepublik verwiesen. Dies ignoriert manche Verbindlichkeiten. Auch der deutsche Anteil an den EUSchulden wird gerne übersehen.
BERLIN – Der Schuldenberg der Bundesrepublik ist weitaus größer als allgemein angenommen. Ein Grund dafür: Der deutsche Anteil an den auf EU-Ebene aufgenommenen Schulden wird in der Bestandsaufnahme meist ignoriert. Dies geht aus einer Untersuchung des Mannheimer Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hervor, die in dieser Woche veröffentlicht wurde. „Die Zahlen zur deutschen Staatsverschuldung sind zunehmend unvollständig, weil sie die auf Deutschland entfallenden Verpf lichtungen für wachsende EUSchulden ausblenden“, sagte ZEW-Studienautor Friedrich Heinemann. Insgesamt beliefen sich die nicht ausgewiesenen Beträge für Rückzahlung und Haftung auf 261,5 Milliarden Euro oder mehr als 10 Prozent der gegenwärtigen deutschen Staatsschuld.
Der während der Pandemie ins Leben gerufene Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“(NGEU) in Höhe von 750 Milliarden Euro spielt hier eine Schlüsselrolle. Damals verschuldete sich die EU erstmals in ihrer Geschichte, ohne dass diesen Schulden Kreditforderungen in gleicher Höhe entgegenstanden. Die Konsequenz: Zwischen 2028 und 2058 muss der Teil, dem keine Forderungen entgegenstehen, aus dem EU-Haushalt zurückgezahlt werden. Der Haushalt wiederum wird aus den Beiträgen der Mitgliedsstaaten finanziert. Nach ZEW-Berechnungen beläuft sich der deutsche Finanzierungsanteil für die Tilgungen auf 109 Milliarden Euro. Zudem übernimmt Deutschland bis 2058 zusätzlich Garantien im Umfang von anfangs 134 Milliarden Euro für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten. Die Verschuldung, die über den EUHaushalt abzutragen ist, taucht jedoch in keiner nationalen Schuldenstatistik auf.
Langfristig kann dies zu einem Problem werden, da damit zu rechnen sei, dass „insbesondere hoch verschuldete EU-Mitgliedstaaten in Zukunft noch stärker in Richtung einer Ausweitung der EU-Verschuldung drängen“, erläutert ZEW-Experte Friedrich Heinemann. Denn „die EU-Verschuldung bietet einen Weg, Schuldengrenzen im Rahmen nationaler und europäischer Fiskalregeln zu umgehen.“Daher sei es nötig, diesbezüglich mehr Transparenz zu schaffen: „Die Korrektur der gegenwärtigen statistischen Regeln ist wünschenswert, hin zu einer umfassenden Zurechnung europäischer Staatsschulden auf die Mitgliedstaaten“, so Heinemann.
Statistische Trickserei bei Deutschlands Schulden
Wie die statistische Trickserei in der Praxis aussieht, lässt sich am Beispiel der Bundesrepublik zeigen. Dabei wird deutlich, dass Deutschlands Schulden viel höher sind als ausgewiesen. Die offiziellen Staatsschulden der Bundesrepublik lagen im vierten Quartal 2023 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei rund 2.445 Milliarden Euro. Zum selben Zeitpunkt betrug das Bruttoinlandsprodukt 4.121 Milliarden Euro. Die deutsche Schuldenquote liegt derzeit also bei 59,33 Prozent – und damit im Rahmen der Maastricht-Kriterien, die eine öffentliche Verschuldung von maximal 60 Prozent des BIP vorsehen. Auf den ersten Blick sieht das sehr gut aus. Zählt man aber noch die knapp 262 Milliarden Euro deutscher EU-Schulden hinzu, würde die Staatsverschuldung um 6,35 Prozentpunkte steigen.
Dabei sind die EU-Schulden nicht die einzigen Verbindlichkeiten, die offiziell nicht zu Buche schlagen. So moniert der Bundesrechnungshof schon seit Jahren, dass Sondervermögen aus der Schuldenstatistik herausgerechnet werden. Nach BRH-Angaben sind aus den derzeit 29 aktiven Sondervermögen, die Ende 2022 einen Gesamtumfang von etwa 869 Milliarden Euro hatten, rund 780 Milliarden Euro kreditfinanziert. Ihre Bezeichnung dürfe daher nicht „nicht darüber hinwegtäuschen“, heißt es aus der Kontrollbehörde, „dass Sondervermögen tatsächlich weit überwiegend entweder ausgelagerte Schuldentöpfe sind oder finanziell am Tropf des kreditfinanzierten Bundeshaushaltes hängen“. Der kreditfinanzierte Teil der aktiven Sondervermögen würde die deutsche Staatsverschuldung um weitere 18,93 Prozentpunkte steigen lassen. Ehrlich gerechnet liegt die Bundesrepublik derzeit also bei einer Staatsverschuldung von rund 85 Prozent des BIP – und damit über dem EUDurchschnitt, der im dritten Quartal 2023 bei 82,6 Prozent lag.
Hinzu kommt, dass das deutsche BIP-Wachstum in der Zukunft deutlich geringer ausfallen soll als in der Vergangenheit, was zu einem relativen Anstieg der Schuldenlast führt. Zudem entstehen Staatsschulden in erster Linie durch die Ausgabe von Staatsanleihen, die in einem inf lationären Umfeld höher verzinst werden müssen. Auch von dieser Seite nimmt der Druck auf die Staatsfinanzen zu. In diesem Jahr sind im Haushaltsplan Zinszahlungen in Höhe von 37,4 Milliarden Euro vorgesehen.
Der Staat gibt derzeit 7,9 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes für die Schulden der Vergangenheit aus und damit deutlich mehr als für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur zusammen.
Künftige Belastungen oft unterschlagen
Doch das ist nicht alles. Ebenfalls unterschlagen wird die größte Belastung für zukünftige Bundeshaushalte, nämlich die sogenannte implizite Staatsverschuldung. Darunter versteht man finanzielle Verbindlichkeiten, die durch politische Zusagen oder rechtliche Verpf lichtungen entstehen, insbesondere in den sozialen Sicherungssystemen Rente, Pf lege, Krankenversicherung und Arbeitslosigkeit. Nach Berechnungen der Stiftung Marktwirtschaft und des Forschungszentrums Generationenverträge der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg lag die implizite Staatsverschuldung im Sommer 2022 bei 330,2 Prozent des BIP. Die verdeckten Schulden der Bundesrepublik sind somit mehr als fünfmal so hoch wie offiziell ausgewiesen. Tatsächlich betrug der Gesamtschuldenstand des Staates im Sommer 2022 rund 14,4 Billionen Euro, erläutert der Ökonom Bernd Raffelhüschen, Vorstandsmitglied der Stiftung Marktwirtschaft. Deutschlands soziale Verbindlichkeiten werden zunehmend zu einer Frage der Generationengerechtigkeit.
All dies ist nicht das Ende der Welt. Die Bundesrepublik hat noch immer eine starke Wirtschaft, eine gute Bonität und über diverse politische Hebel eine Ausweitung des Arbeitsmarktes und Einsparungen am Sozialetat selbst in der Hand. Auch eine moderate Aufweichung der Schuldenbremse kann diskutiert werden, wenn dahinter nicht bloß der Unwille der Politik steckt, die Verantwortung für notwendige Sozialreformen zu übernehmen. Doch es wäre fahrlässig, einfach davon auszugehen, dass die deutschen Staatsschulden ohne frische Wachstumsimpulse, steigende Staatseinnahmen und eine dementsprechend relative Reduzierung der Sozialausgaben langfristig tragfähig bleiben. Diese Tatsache ist auch durch statistische Taschenspielertricks nur schwer zu verschleiern.