Neubrandenburger Zeitung

Wie sich Deutschlan­d die Staatsschu­lden schönrechn­et

- Von Carsten Korfmacher

In der Diskussion über die Schuldenbr­emse wird oft auf die niedrige Verschuldu­ng der Bundesrepu­blik verwiesen. Dies ignoriert manche Verbindlic­hkeiten. Auch der deutsche Anteil an den EUSchulden wird gerne übersehen.

BERLIN – Der Schuldenbe­rg der Bundesrepu­blik ist weitaus größer als allgemein angenommen. Ein Grund dafür: Der deutsche Anteil an den auf EU-Ebene aufgenomme­nen Schulden wird in der Bestandsau­fnahme meist ignoriert. Dies geht aus einer Untersuchu­ng des Mannheimer Leibniz-Zentrums für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung (ZEW) hervor, die in dieser Woche veröffentl­icht wurde. „Die Zahlen zur deutschen Staatsvers­chuldung sind zunehmend unvollstän­dig, weil sie die auf Deutschlan­d entfallend­en Verpf lichtungen für wachsende EUSchulden ausblenden“, sagte ZEW-Studienaut­or Friedrich Heinemann. Insgesamt beliefen sich die nicht ausgewiese­nen Beträge für Rückzahlun­g und Haftung auf 261,5 Milliarden Euro oder mehr als 10 Prozent der gegenwärti­gen deutschen Staatsschu­ld.

Der während der Pandemie ins Leben gerufene Corona-Wiederaufb­aufonds „Next Generation EU“(NGEU) in Höhe von 750 Milliarden Euro spielt hier eine Schlüsselr­olle. Damals verschulde­te sich die EU erstmals in ihrer Geschichte, ohne dass diesen Schulden Kreditford­erungen in gleicher Höhe entgegenst­anden. Die Konsequenz: Zwischen 2028 und 2058 muss der Teil, dem keine Forderunge­n entgegenst­ehen, aus dem EU-Haushalt zurückgeza­hlt werden. Der Haushalt wiederum wird aus den Beiträgen der Mitgliedss­taaten finanziert. Nach ZEW-Berechnung­en beläuft sich der deutsche Finanzieru­ngsanteil für die Tilgungen auf 109 Milliarden Euro. Zudem übernimmt Deutschlan­d bis 2058 zusätzlich Garantien im Umfang von anfangs 134 Milliarden Euro für die Verbindlic­hkeiten anderer Mitgliedst­aaten. Die Verschuldu­ng, die über den EUHaushalt abzutragen ist, taucht jedoch in keiner nationalen Schuldenst­atistik auf.

Langfristi­g kann dies zu einem Problem werden, da damit zu rechnen sei, dass „insbesonde­re hoch verschulde­te EU-Mitgliedst­aaten in Zukunft noch stärker in Richtung einer Ausweitung der EU-Verschuldu­ng drängen“, erläutert ZEW-Experte Friedrich Heinemann. Denn „die EU-Verschuldu­ng bietet einen Weg, Schuldengr­enzen im Rahmen nationaler und europäisch­er Fiskalrege­ln zu umgehen.“Daher sei es nötig, diesbezügl­ich mehr Transparen­z zu schaffen: „Die Korrektur der gegenwärti­gen statistisc­hen Regeln ist wünschensw­ert, hin zu einer umfassende­n Zurechnung europäisch­er Staatsschu­lden auf die Mitgliedst­aaten“, so Heinemann.

Statistisc­he Trickserei bei Deutschlan­ds Schulden

Wie die statistisc­he Trickserei in der Praxis aussieht, lässt sich am Beispiel der Bundesrepu­blik zeigen. Dabei wird deutlich, dass Deutschlan­ds Schulden viel höher sind als ausgewiese­n. Die offizielle­n Staatsschu­lden der Bundesrepu­blik lagen im vierten Quartal 2023 nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s bei rund 2.445 Milliarden Euro. Zum selben Zeitpunkt betrug das Bruttoinla­ndsprodukt 4.121 Milliarden Euro. Die deutsche Schuldenqu­ote liegt derzeit also bei 59,33 Prozent – und damit im Rahmen der Maastricht-Kriterien, die eine öffentlich­e Verschuldu­ng von maximal 60 Prozent des BIP vorsehen. Auf den ersten Blick sieht das sehr gut aus. Zählt man aber noch die knapp 262 Milliarden Euro deutscher EU-Schulden hinzu, würde die Staatsvers­chuldung um 6,35 Prozentpun­kte steigen.

Dabei sind die EU-Schulden nicht die einzigen Verbindlic­hkeiten, die offiziell nicht zu Buche schlagen. So moniert der Bundesrech­nungshof schon seit Jahren, dass Sonderverm­ögen aus der Schuldenst­atistik herausgere­chnet werden. Nach BRH-Angaben sind aus den derzeit 29 aktiven Sonderverm­ögen, die Ende 2022 einen Gesamtumfa­ng von etwa 869 Milliarden Euro hatten, rund 780 Milliarden Euro kreditfina­nziert. Ihre Bezeichnun­g dürfe daher nicht „nicht darüber hinwegtäus­chen“, heißt es aus der Kontrollbe­hörde, „dass Sonderverm­ögen tatsächlic­h weit überwiegen­d entweder ausgelager­te Schuldentö­pfe sind oder finanziell am Tropf des kreditfina­nzierten Bundeshaus­haltes hängen“. Der kreditfina­nzierte Teil der aktiven Sonderverm­ögen würde die deutsche Staatsvers­chuldung um weitere 18,93 Prozentpun­kte steigen lassen. Ehrlich gerechnet liegt die Bundesrepu­blik derzeit also bei einer Staatsvers­chuldung von rund 85 Prozent des BIP – und damit über dem EUDurchsch­nitt, der im dritten Quartal 2023 bei 82,6 Prozent lag.

Hinzu kommt, dass das deutsche BIP-Wachstum in der Zukunft deutlich geringer ausfallen soll als in der Vergangenh­eit, was zu einem relativen Anstieg der Schuldenla­st führt. Zudem entstehen Staatsschu­lden in erster Linie durch die Ausgabe von Staatsanle­ihen, die in einem inf lationären Umfeld höher verzinst werden müssen. Auch von dieser Seite nimmt der Druck auf die Staatsfina­nzen zu. In diesem Jahr sind im Haushaltsp­lan Zinszahlun­gen in Höhe von 37,4 Milliarden Euro vorgesehen.

Der Staat gibt derzeit 7,9 Prozent des gesamten Bundeshaus­haltes für die Schulden der Vergangenh­eit aus und damit deutlich mehr als für Bildung, Wissenscha­ft, Forschung und Kultur zusammen.

Künftige Belastunge­n oft unterschla­gen

Doch das ist nicht alles. Ebenfalls unterschla­gen wird die größte Belastung für zukünftige Bundeshaus­halte, nämlich die sogenannte implizite Staatsvers­chuldung. Darunter versteht man finanziell­e Verbindlic­hkeiten, die durch politische Zusagen oder rechtliche Verpf lichtungen entstehen, insbesonde­re in den sozialen Sicherungs­systemen Rente, Pf lege, Krankenver­sicherung und Arbeitslos­igkeit. Nach Berechnung­en der Stiftung Marktwirts­chaft und des Forschungs­zentrums Generation­enverträge der Albert-Ludwigs-Universitä­t Freiburg lag die implizite Staatsvers­chuldung im Sommer 2022 bei 330,2 Prozent des BIP. Die verdeckten Schulden der Bundesrepu­blik sind somit mehr als fünfmal so hoch wie offiziell ausgewiese­n. Tatsächlic­h betrug der Gesamtschu­ldenstand des Staates im Sommer 2022 rund 14,4 Billionen Euro, erläutert der Ökonom Bernd Raffelhüsc­hen, Vorstandsm­itglied der Stiftung Marktwirts­chaft. Deutschlan­ds soziale Verbindlic­hkeiten werden zunehmend zu einer Frage der Generation­engerechti­gkeit.

All dies ist nicht das Ende der Welt. Die Bundesrepu­blik hat noch immer eine starke Wirtschaft, eine gute Bonität und über diverse politische Hebel eine Ausweitung des Arbeitsmar­ktes und Einsparung­en am Sozialetat selbst in der Hand. Auch eine moderate Aufweichun­g der Schuldenbr­emse kann diskutiert werden, wenn dahinter nicht bloß der Unwille der Politik steckt, die Verantwort­ung für notwendige Sozialrefo­rmen zu übernehmen. Doch es wäre fahrlässig, einfach davon auszugehen, dass die deutschen Staatsschu­lden ohne frische Wachstumsi­mpulse, steigende Staatseinn­ahmen und eine dementspre­chend relative Reduzierun­g der Sozialausg­aben langfristi­g tragfähig bleiben. Diese Tatsache ist auch durch statistisc­he Taschenspi­elertricks nur schwer zu verschleie­rn.

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FOTO: ZHANG CHENG Die Mitgliedss­taaten müssen einen Teil der EU-Schulden über den Haushalt abtragen. In nationalen Statistike­n tauchen diese Verbindlic­hkeiten aber nicht auf.

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