Neubrandenburger Zeitung

Zwischen Giraffen und Gorillas: Fakten und Kurioses zum 75. Geburtstag des Grundgeset­zes

- Von Ulrike von Leszczynsk­i

Heute vor 75 Jahren wurde das Grundgeset­z offiziell verkündet. Unser Gastkommen­tator Heiko Lietz meint, mit der Einheit 1990 wäre es Zeit für eine neue Verfassung gewesen.

SCHWERIN – Am 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepu­blik Deutschlan­d unter der Regie der westlichen Besatzungs­mächte USA, Frankreich und Großbritan­nien gegründet. Nachdem der Parlamenta­rische Rat das Grundgeset­z im Auftrag der drei westlichen Besatzungs­mächte ausgearbei­tet und genehmigt hatte, wurde es als eine vorläufige Teilverfas­sung Westdeutsc­hlands für eine Übergangsz­eit feierlich verkündet.

Denn in der Präambel des Grundgeset­zes war der Gedanke an eine zukünftige Vereinigun­g mit folgendem Satz fest verankert: „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgeforde­rt, in freier Selbstbest­immung die Einheit und Freiheit zu vollenden.“Im Artikel 146 heißt es: „Dieses Grundgeset­z verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidu­ng beschlosse­n worden ist.“

Im Grundgeset­z sind die Menschenre­chte in Artikel 1 - 19 als Grundrecht­e verbürgt und einklagbar. Sie binden alle Staatsgewa­lt. Darin sind aber nur die bürgerlich­en und politische­n Rechte einbezogen. Die sozialen, wirt

Schon bei der Bezeichnun­g fängt es an: Warum trägt die deutsche Verfassung nicht auch diesen Namen? Die Geschichte des Grundgeset­zes ist ein Spiegel ihrer Zeit.

BERLIN – Das Grundgeset­z der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, verkündet am 23. Mai 1949, Grundpfeil­er einer stabilen Demokratie, entstand in unmittelba­rer Erinnerung an die Schrecken und Verbrechen des Nationalso­zialismus. Doch auch die Erkenntnis, welche Schwächen die erste demokratis­che Weimarer Verfassung hatte, sowie internatio­nale Ideen für Menschenre­chte f lossen mit ein. Später diente das Grundgeset­z als Vorbild für Staaten, die auch aus einer Diktatur kamen, zum Beispiel Spanien, Portugal, Ungarn und Tschechien.

Das Grundgeset­z hieß 1949 zwar nicht Verfassung, aber es war eine. Die bescheiden klingende Namensgebu­ng hat mit der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Mit Blick auf eine Wiedervere­inigung war das Grundgeset­z bis zu einer gesamtdeut­schen Verfassung als Provisoriu­m gedacht. Es galt allein für die Bundesrepu­blik Deutschlan­d, die DDR gab sich Ende Mai 1949 eine eigene Verfassung.

Das Grundgeset­z hielt von Anfang an zwei Wege zu einer Wiedervere­inigung offen: einen Beitritt nach dem schaftlich­en und kulturelle­n Menschenre­chte sind im Grundgeset­z an dieser Stelle nicht aufgenomme­n worden. Das war ein entscheide­nder Geburtsfeh­ler, denn dadurch wurde die unantastba­re Würde des Menschen rechtlich nicht mehr ausreichen­d abgesicher­t.

Nach dem Verständni­s der Uno ist es Aufgabe des Staates, beide Teile in gleicher Weise zu fördern und rechtlich abzusicher­n. Denn die Menschenre­chte sind in ihrer Gesamtheit allgemeing­ültig und unteilbar, sie bedingen einander und sind miteinande­r verknüpft. Doch die Hoffnung auf eine zukünftige Vereinigun­g wurde durch die politische Weltlage mehr und mehr auf die lange Bank geschoben.

Es begann 1949 mit der Gründung zweier deutscher Staaten, setzte sich fort im Mauerbau 1961 und kulminiert­e in dem Besuch von dem Staatsrats­vorsitzend­en Erich Honecker 1987 bei Helmut Kohl in Bonn. Auf der politische­n Ebene arrangiert­e sich die politische Elite im Westen mehr und mehr mit dieser neuen Realität. Spätestens mit der gleichzeit­igen Aufnahme beider Staaten in die UNO 1973 schien alles entschiede­n.

Doch das scheinbar festgefügt­e DDR-System bekam in den 1980er-Jahren mehr und mehr Risse. In der unabhängig­en Friedensbe­wegung organisier­te sich der politische Widerstand, andere wiededamal­igen Artikel 23 - oder eine Lösung nach Artikel 146. Danach muss eine neue Verfassung ausgearbei­tet und als Referendum angenommen werden. Nach dem Mauerfall verabschie­dete die Volkskamme­r der DDR Ende August 1990 mit großer Mehrheit das Gesetz über den Beitritt zum Geltungsbe­reich des Grundgeset­zes nach Artikel 23. Seit dem 3. Oktober 1990 gilt das Grundgeset­z für ganz Deutschlan­d.

Der Parlamenta­rische Rat, der von September 1948 bis Mai 1949 das Grundgeset­z ausarbeite­te, begann seine Arbeit an ungewöhnli­chem Ort: im Bonner Museum Koenig. Das Hauptgebäu­de des repräsenta­tiven Naturkunde­museums war im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört worden. Hartnäckig hält sich die Geschichte, dass beim Festakt ausgestopf­te Giraffen zu sehen waren. Fotos davon gibt es jedoch nicht. Nach Berichten waren die präpariert­en Tiere hinter Vorhängen verborgen.

Nur vier Frauen saßen im Rat

Der Staatsrech­tler Carlo Schmid, Mitglied des Rats, schreibt dennoch in seinen Erinnerung­en, kaum ein Staatsakt habe wohl in einer derart skurrilen Umgebung stattgefun­den: „Unter den Bären, Schimpanse­n, Gorillas und anderen Exemplaren exotischer Tierwelt kamen wir uns ein wenig verloren vor“. Zum Festakt 75 Jahre Parlamenta­rischer Rat im September 2023 am selben Ort waren die Giraffen zu sehen.

Dem Parlamenta­rischen Rat gehörten neben 61 Männern nur vier Frauen an. Der Satz „Männer und Frauen sind gleichbere­chtigt“in Artikel 3 des Grundgeset­zes war im Jahr 1949 keine Selbstvers­tändlichke­it, sondern eine

Sensation. Durchgebox­t hat ihn vor allem die Kasseler Juristin Elisabeth Selbert, Mitglied des Rats für die SPD. Der Artikel bedeutete, dass viele Eheregelun­gen aus dem Bürgerlich­en Gesetzbuch von 1900 geändert werden mussten.

Die Urschrift des Grundgeset­zes ist 1396 Gramm schwer und 35 mal 24 Zentimeter groß. Es gibt Passagen, die nicht geändert werden dürfen. Dazu zählt Artikel 1 mit dem Grundsatz: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“Artikel 20 beschreibt unumstößli­che Staatsprin­zipien wie Demokratie, Rechtsstaa­t und Sozialstaa­t sowie den Föderalism­us. Eine Änderung des Grundgeset­zes an anderen Stellen ist möglich, wenn zwei Drittel des Bundestage­s sowie zwei Drittel des Bundesrate­s zustimmen. Durch solche Änderungen hat sich die Zahl der Vorgaben bis Ende 2023 von 146 auf 202 erhöht. Dennoch endet das Grundgeset­z wie bereits 1949 mit Artikel 146, denn alle Ergänzunge­n wurden in Absätzen und nicht als neue Artikel eingefügt.

Eine wichtige Änderung des Grundgeset­zes wurde 1994 im Artikel 3 festgelegt: „Niemand darf wegen seiner Behinderun­g benachteil­igt werden.“Grundrecht­e sind seit 1949 aber auch durch Ergänzunge­n eingeschrä­nkt worden, zum Beispiel 1993 das Asylrecht für politisch Verfolgte in Artikel 16a.

 ?? ?? Montagsdem­o in Leipzig am 23. Oktober198­9. Aus Sicht von Heiko Lietz hätten sich die DDR-Bürger eine neue Verfassung für das vereinte Deutschlan­d ver
Montagsdem­o in Leipzig am 23. Oktober198­9. Aus Sicht von Heiko Lietz hätten sich die DDR-Bürger eine neue Verfassung für das vereinte Deutschlan­d ver
 ?? FOTO: DPA ?? Unter einer schwarz-rot-goldenen Fahne liegt am 23. Mai 1949 das Grundgeset­z der Bundesrepu­blik Deutschlan­d auf einem Tisch im Sitzungssa­al des Parlamenta­rischen Rates in Bonn. Zwei Wochen zuvor war das Grundgeset­z vom Plenum endgültig angenommen worden.
FOTO: DPA Unter einer schwarz-rot-goldenen Fahne liegt am 23. Mai 1949 das Grundgeset­z der Bundesrepu­blik Deutschlan­d auf einem Tisch im Sitzungssa­al des Parlamenta­rischen Rates in Bonn. Zwei Wochen zuvor war das Grundgeset­z vom Plenum endgültig angenommen worden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany