Jenny Erpenbeck gewinnt Literaturpreis als erste Deutsche
Die Liebesgeschichte zwischen einer Studentin und einem älteren Schriftsteller in der untergehenden DDR begeistert die Jury des International Booker Prize.
BERLIN – Eine richtige Rede hatte Jenny Erpenbeck nicht vorbereitet. „Ich bin wirklich überrascht“, sagte sie, als sie in London mit großer Freude und Bescheidenheit auf die Bühne kam. Die 57-Jährige hat als erste Deutsche den International Booker Prize gewonnen - einen der prestigeträchtigsten Literaturpreise in Großbritannien. Die aus Ostberlin stammende Schriftstellerin erhielt den diesjährigen Preis für die englische Übersetzung ihres Romans „Kairos“gemeinsam mit Übersetzer Michael Hofmann, mit dem sie sich das Preisgeld von 50 000 Pfund (umgerechnet etwa 58 500 Euro) teilt.
Erpenbeck gilt als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der deutschen Gegenwartsliteratur, besonders im Ausland ist die Resonanz auf ihre Werke groß. Das US-amerikanische Magazin „The New Yorker“ging 2017 sogar davon aus, dass Erpenbeck mal den Nobelpreis gewinnen wird. Das Wochenmagazin „Die Zeit“bezeichnet die in Berlin lebende Autorin als „literarische Stimme Deutschlands in der Welt.“Ihre Werke erscheinen in mehr als 30 Sprachen. Auch hierzulande wurde Erpenbeck mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Thomas-Mann-Preis, dem Hans-Fallada-Preis und dem Verdienstkreuz am Bande.
Sie fühle sich sehr geehrt, sagte die Autorin bei der Verleihung in London. Sie erinnerte daran, dass sie aus einer Familie von Schriftstellern komme. Ihre Eltern sind der Philosoph und Romanautor John Erpenbeck sowie die Arabistin und renommierte Literaturübersetzerin Doris Kilias.
Ihr Roman „Kairos“dreht sich um die Liebesbeziehung zwischen einer jungen Studentin und einem sehr viel älteren, verheirateten Schriftsteller in den letzten Jahren der DDR in Ostberlin. Das von der gemeinsamen Liebe zu Musik und Kunst bef lügelte Verhältnis der beiden geht jedoch in die Brüche, so wie auch der Staat um sie herum im Zerfall begriffen ist. Im April 2023 hatte das Staatstheater Cottbus die Prosa auf die Bühne gebracht. „Kairos“sei außergewöhnlich, weil es „sowohl schön als auch unangenehm ist, persönlich und politisch“, hieß es in der Begründung der Jury. Erpenbeck lade dazu ein, eine Verbindung herzustellen zwischen politischen Entwicklungen, die Generationen definierten, und einer zerstörerischen, sogar brutalen Liebesaffäre. Erpenbeck wurde 1967 in Ostberlin geboren. Nach einer Buchbinderlehre studierte sie Theaterwissenschaft und Musiktheaterregie. Auf Regiearbeiten am Opernhaus in Graz und in Berlin folgte 1999 Erpenbecks Schriftstellerdebüt mit der Novelle „Geschichte vom alten Kind“. Es folgten weitere Romane, Erzählungen und Theaterstücke.
Ihr Roman „Heimsuchung“(2008) über das Haus ihrer Großmutter in Brandenburg thematisiert sie Flucht und Vertreibung anhand der eigenen Familiengeschichte. Einem breiten Publikum ist Erpenbeck durch ihren 2015 erschienenen Roman „Gehen, ging, gegangen“bekannt geworden. Darin erzählt sie die Geschichte junger Flüchtlinge aus Afrika, die in Berlin zum Nichtstun verurteilt sind.