Fialkowska spielt Edvard Grieg
Zu Recht wird die Pianistin Janina Fialkowska insbesondere für ihre Chopin-Interpretationen geschätzt: für ihr Vermögen, feinste Stimmungslagen abzubilden, Empfindung mit Eleganz zu verknüpfen und zwischendrin auch pianistisches Feuer lodern zu lassen. Qualitäten, die sie dazu prädestinieren, sich der „Lyrischen Stücke“von Edvard Grieg anzunehmen. Der Norweger, aus dessen pianistischem Werkkatalog sich eigentlich nur das Klavierkonzert in a-Moll einen Stammplatz im Repertoire sichern konnte, schrieb eine erkleckliche Anzahl kurzer, meist nur wenige Minuten dauernder Kompositionen fürs Klavier, die er zwischen 1867 und 1901 veröffentlichte. In ihnen knüpft er an die pianistischen Standards seiner Zeit an, vor allem an die von Schumann und Chopin gesetzten, und verbindet sie mit Elementen der nordischen Volksmusik. Die Kanadierin Fialkowska, inzwischen bei Augsburg lebend, hat aus den insgesamt 66 „Lyrischen Stücken“nun zwei Dutzend eingespielt. Einer jeder dieser scheinbaren Kleinigkeiten wendet sie sich mit unverhohlener Neugier zu und hebt damit die Vielfalt der Sammlung hervor. Griegs „Lyrik“schwelgt nämlich nicht nur in elegischen Zuständen – wo sie aufscheinen, treten sie bei Fialkowska so gedankenvoll wie diskret zutage –, sie ist auch mal keck und quellwasserklar, beschwingt und sogar auftrumpfend. Gefundenes Futter für die Charakterisierungskunst dieser Pianistin. (sd) ***** Grieg: Lyrische Stücke/J. Fialkowska
(Atma Classique)
VON ALOIS KNOLLER
Augsburg Am Ende der Tage, wenn Christus, der Weltenrichter, die Gerechten von den Verfluchten trennt, wird er sagen: „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen … Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“So steht es im Matthäusevangelium. Wegschauen gilt nicht; egal, wer in Not geraten ist – ein ferner oder ein naher Mensch. Denn sie alle sind Kinder Gottes.
Christliche Nächstenliebe war etwas Neues in der antiken Welt, und sie ist bis heute eine Gewissensfrage an die Weltpolitik, die Krieg und Massenelend hinnimmt. In Zeiten von Gräueltaten und gewaltiger Flüchtlingsströme passt eine Ausstellung über die Caritas im Paderborner Diözesanmuseum geradezu punktgenau.
Sie ist von Anfang bis Ende mit großartigen Exponaten aus ganz Europa bestückt und schlägt den inhaltlichen Bogen von der frühen Christenheit bis zur Gegenwart. Das Ideal selbstloser mitmenschlicher Zuwendung wurde nämlich seit jeher dem Christenmenschen bildhaft vor Augen gestellt – auch als Ansporn, trotz nicht nachlassender Not („Arme werdet ihr immer haben“) und allfällig frustrierender Rückschläge, im karitativen Eifer beständig zu bleiben.
Urbild ist Jesus Christus selbst, der als guter Hirte das erschöpfte Schaf auf der Schulter trägt, das Liebesmahl mit seinen Jüngern hält – oder für alle, die zu ihm kommen, das Brot vermehrt. Der Apostel
Von der frommen bürgerlichen Mildtätigkeit zur öffentlichen Aufgabe
Paulus erhebt 25 Jahre danach die Liebe zur höchsten Tugend – sein „Hohelied der Liebe“auf dem ältesten Papyrus des Neuen Testaments reiste aus Dublin nach Paderborn. So bewegt sich diese Ausstellung mit spektakulären Leihgaben auf Metropolenniveau. Sei es die nackte Caritas von Lucas Cranach als sorgende junge Mutter ihrer Kinder, seien es im 12. Jahrhundert filigran in Elfenbein geschnitzte Werke der Barmherzigkeit auf dem Einband des Psalters der Königin Melisende in Jerusalem, sei es das Gemälde „Die Ausgabe der Morgensuppe“von Norbert Goeneutte als Zeugnis frühindustriellen Volkselends in Paris oder Picassos Aquarell „Wissenschaft und Caritas“.
Jede Epoche akzentuierte Caritas auf ihre Weise: im barmherzigen Samariter, der den unter die Räuber gefallenen Reisenden versorgt; im armen Lazarus, der mit Geschwüren vor dem Haus des reichen Prassers Hungers darbt; im heiligen Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler teilt, und in der heiligen Elisabeth der Armenfürsorge.
Was im Mittelalter zunächst als Tugend von Königen und Bischöfen galt, ging später in Form von Siechenhäusern auf die Städte über, wandelte sich von der frommen bürgerlichen Mildtätigkeit, die nicht zuletzt das eigene Seelenheil im Jenseits sichern sollte, zu einer öffentlichen Pflichtaufgabe mit Hospitälern, Waisen- und Armenhäusern einschließlich der Fürsorge für Geisteskranke. Martin Luther und Ein Foto kann konzipiert und komponiert sein – und dennoch eindrücklich wirken: Hier hat sich die Künstlerin Vanessa Beecroft im Südsudan in der Kathedrale von Rumbek selbst als weiße stillende Madonna mit schwarzen Kindern abgelichtet.
die Reformatoren wirkten daraufhin, Nächstenliebe als Erweis des wahren Glaubens zu üben und als Kennzeichen gerechter, christlicher Regierung zu propagieren.
Aus den liberalen Ideen ungehinderter wirtschaftlicher Betätigung bezog seit dem 18. Jahrhundert die Industrialisierung ihre stürmische Dynamik – und erzeugte gleichzeitig städtische Elendsquartiere, Kinderarbeit und die Misere der „working poor“: Ihrer Hände Arbeit warf nicht genug zum Leben ab. Die unerträglichen Bedingungen klagt Käthe Kollwitz in ihren Zeichnungen eindringlich an. Karitatives Handeln auf Spendenbasis stieß an Grenzen, auch wenn das 19. Jahrhundert eine Vielzahl neuer kirchlicher Fürsorge-Orden wie die Kaiserswerther Diakonissen hervorbrachte. Neben persönlicher Zuwendung brauchte es eine neue staatliche Sozialpolitik, die Reichskanzler Otto von Bismarck zur Beschwichtigung sozialistischer Tendenzen zwischen 1884 und 1891 mit Kalkül einführte.
Der Staat wurde freilich selbst blutrünstig: In beiden Weltkriegen
traf Caritas auf völlig unbekannte Dimensionen der Hilfsbedürftigkeit. Der barmherzige Samariter blieb eine Ikone der Kunst – etwa bei Ernst Barlach und Erich Heckel. Anrührende Intimität spricht aus Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Bad des Kranken“: Ein Pfleger hebt den schlaffen Leib des Patienten in die Wanne. Im Nationalsozia- lismus wurde der Staat gar zum Mörder von „Lebensunwerten“. Verzweiflung ergriff die, die nicht mehr helfen konnten. Eine Schwester, die ohnmächtig der „Aktion T 4“zusehen musste, als ihre Schützlinge abtransportiert wurden, notierte: „Ist denn die Liebe tot?“
Verschwunden ist die Anteilnahme am Schicksal des anderen nicht. Die Ausstellung endet mit einer Videoarbeit des Amerikaners Bill Viola von 2002 mit dem vieldeutigen Titel „Observance“: Menschen bewegen sich in einer Warteschlange
langsam voran, halten von Gefühlen überwältigt inne, ihr Blick ist fixiert auf etwas unterhalb des Bildrandes – etwas Schreckliches muss dort passiert sein. Die Passanten berühren sich manchmal oder tauschen im Vorübergehen Blicke aus; Paare trösten sich in geteiltem Leid. Der Grund aber von allem Schmerz und Leid: Er bleibt für den Video-Betrachter im Dunkeln.
Und wie eine moderne Pietà wirkt ein großformatiges Reportagefoto aus dem syrischen Aleppo im Krieg. Ein Mann kniet auf der staubigen Straße; auf seinen Knien hält er einen leblosen Knaben.
In Augsburg war diese Aufnahme in der Kirche St. Peter am Perlach schon einmal wochenlang als Altarbild zu sehen. OLaufzeit
der Ausstellung bis zum 13. Dezember, Diözesanmuseum Paderborn, Markt 17, Telefon 051 51/125 14 00, Internet: www.caritas-ausstellung.de. Geöffnet: dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Der umfangreiche, reich bebilderte Katalog erschien im Verlag Michael Imhof, 720 Seiten, 39,95 Euro.
Als die „Lebensunwerten“abtransportiert wurden