Aus einem Jahr wurde ein ganzes Leben
Auswanderer-Serie (2) Betty Speckhardt lebt seit 57 Jahren in Detroit. 1958 machte sie sich von Karlshuld aus auf den Weg über den Atlantik, um ihre Schwester zu besuchen. Doch dann kam alles anders
Detroit/Karlshuld Betty Speckhardt Lachen tönt durchs Telefon. „Bertha sagt hier kein Mensch zu mir. Was für ein schrecklicher Name...“1937 erblickte sie als Bertha Stöckl in Karlshuld das Licht der Welt. Heute lebt die 78-Jährige 6899 Kilometer Luftlinie von ihrem Geburtsort entfernt in Detroit, der größten Stadt des US-Bundesstaates Michigan. In der 700000-Einwohner-Metropole an der kanadischen Grenze, dem Sitz von General Motors, ist es gerade 10 Uhr vormittags. Sechs Stunden beträgt der Zeitunterschied zu Mitteleuropa. Und Betty Speckhardt hat gerade Zeit zu erzählen.
Im Ballungsraum (5,2 Millionen Einwohner) sind mit der Ford Motor Company und Chrysler auch die beiden anderen der „Big Three“genannten amerikanischen Automobilgiganten angesiedelt. Und der Volkswagen-Konzern ist im Vorort Auburn Hills vertreten. In Detroit findet jeden Winter die größte Automobilausstellung der USA, die North American International Auto Show „NAIAS“statt. Doch heute zeigt sich längst auch die Schattenseite dieser Monostruktur: Die ehemals blühende Industriestadt hat im Zuge des Strukturwandels in der Automobilindustrie mit Rezession, Leerstand und sozialen Problemen zu kämpfen.
In den 50er Jahren freilich waren die Vereinigten Staaten das Gelobte Land. So auch für eine junge 21-Jährige, die sich als Taglöhnerin in der Landwirtschaft verdingen musste. Zwar blühte im Nachkriegsdeutschland das Wirtschaftswunder, doch das Donaumoos war eine karge Landschaft, die Bewohner lebten oft Die Familie Speckhardt: Enkeltochter Nicole, der Schwiegersohn, Enkeltochter Catharina, Betty, Enkelsohn Eric, Enkelsohn Alex (vorne von links) sowie Günter, Tochter Monica, Schwiegertochter Monica und Sohn Edwin (hinten v.l.). Fotos (3): Adolf Öxler Betty Speckhardt 1969 mit Sohn Edwin und Tochter Monica in bayerischer Tracht.
von der Hand in den Mund. „Bei uns gab es nichts zu arbeiten“, erinnert sich Betty Speckhardt. Der Vater war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, galt seit 1944 vermisst. Mutter Bertha musste die kleine Landwirtschaft, die Familie Stöckl wirtschaftete auf 14 Tagwerk, und fünf Kinder alleine durchbringen. Eine harte Zeit, besonders für Betty, die Älteste, die schwere Arbeiten verrichten musste.
Auf ein besseres Leben hoffte auch die jüngere Schwester Ria (Maria). Mit 18 hatte sie sich bereits 1956 über den Großen Teich gewagt. Ihr Ziel hieß Detroit, denn dorthin war während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren bereits Onkel Anton Kramer ausgewandert und hatte eine Fünf Karlshulder Nachbarskinder, die in der 50er Jahren allesamt ihr Bündel packten: Johann Buchner, Schwester Erika Limmer, Maria „Ria“Stöckl, Bertha „Betty“Stöckl und Anton Buchner (von links). Das Bild stammt aus dem Jahr 1941.
kleine Kolonie gegründet. Mit Pilagia „Billy“Frosch, geborene Kranmer, wohnte noch eine weitere Tante mit zwei Kindern in Übersee. Mutter Bertha zahlte den Flug, der damals ein Vermögen von 1000 Mark kostete. Es war die Mitgift von Ria. Zwei Jahre später packte auch Betty ihr Bündel. „Die anderen hat die Mutter dann nicht mehr weggelassen“, spricht sie von einer für die Familie schweren Zeit. Nicht mit dem Flieger, sondern auf dem Landweg und zur See folgte sie ihrer Schwester nach. Mit dem Zug fuhr sie einen ganzen Tag lang von Ingolstadt nach Bremerhaven, dem deutschen Überseehafen und Ausgangspunkt für die Überfahrt über den Atlantik. An den Namen des Dampfers erinnert sich
Betty Speckhardt noch ganz genau, mit der „Rosa Sky“ging es in zehn Tagen nach New York. Dort setzte sie sich sofort in einen Bus an die kanadische Grenze. Detroit liegt im Gebiet der Oberen Seen. Ohne Sprachkenntnisse war dies nicht immer einfach, mit einem Zettel, auf der die Adresse der Schwester stand, hat sie sich durchgefragt. In Detroit angekommen, arbeitete sie als Hausangestellte bei „besseren Leuten“.
Ein Jahr wollte die Auswandererin in der Neuen Welt Eindrücke sammeln, am Ende blieb sie für immer. „Schuld“daran war Günter Speckhardt, 24 Jahre alt, von der Bergstraße in Hessen nach USA ausgewandert. Auf einer deutschen Kulturveranstaltung lernten sich die beiden kennen und es hatte gefunkt. Bald wurde geheiratet. „Mein Mann wollte nie mehr zurück nach Deutschland, also sind wir geblieben“, fasst Betty Speckhardt den Lauf der Dinge zusammen. Der gelernte Schreiner arbeitete als Modellschreiner für die Automobilindustrie und sicherte so den Lebensunterhalt. Später hat er sich selbstständig gemacht.
1961 wurde Sohn Edwin, 1963 Tochter Monica geboren. Zur selben Zeit bauten sie in einem ruhigen Vorort ein Haus. „Daheim haben wir immer deutsch gesprochen“, war Betty Speckhardt wichtig. Die Kinder haben davon profitiert. Edwin hat fünf Jahre lang als Ingenieur in Düsseldorf gearbeitet, später in Schweden. Und die Familie wuchs weiter, die Speckhardts durften sich über vier Enkelkinder freuen. Auch eine der drei Enkeltöchter war in der alten Heimat und zwei Monate im Goetheinstitut in München die Schule besucht.
Heute genießen die Speckhardts den Ruhestand. Liebste Freizeitbeschäftigung der beiden Senioren ist das Bowlen, regelmäßig treffen sie sich mit Freunden in einem großen Center. „Früher haben wir noch öfter gespielt, drei Mal die Woche. Aber die Kugeln sind schwer, meine hat zwölf Pfund“, schmunzelt Betty Speckhardt über ein Hobby, das ins Kreuz geht. Der Kontakt nach Karlshuld ist nie abgerissen, auch wenn die Besuche nach dem Tod der Mutter 1989 selten geworden sind. „In Deutschland hat sich viel verändert. Ich fühle mich dort fremd.“Auch das Klima sei mittlerweile ungewohnt. „Die Winter sind bei uns sehr kalt, die Sommer schwül.“Bereut habe sie den großen Schritt, der ihr ganzes Leben veränderte, niemals. „Wenn Kinder da sind, ist sowieso alles anders.“
Doch ob sie heute nochmals den Mut dazu aufbrächte? „Wenn man jung ist, sieht man vieles anders. Man hat viele Ideen im Kopf und macht sich nicht so viele Gedanken“, sinniert Betty Speckhardt. Heimat hänge immer an Menschen. „In jungen Jahren muss man reisen, dann liebt man die Heimat.“
Ich bin dann mal
weg