Rettig: „Da graut es einem“
Interview St. Paulis Sportdirektor über Politik und Fußball, die Schere zwischen Arm und Reich bei den Profis sowie den Mythos des Hamburger Zweitligisten
Die sportliche Situation ist aktuell kritisch, aber der Mythos lebt. Was macht den FC St. Pauli aus?
Man fühlt sich gut am Millerntor, man ist willkommen. Man kann den Klub meiner Meinung nach nicht kopieren. Hier ist Fußball geerdet, bodenständig, normal, hier geht es in erster Linie um den Sport. Das merken die Leute. Kein Schnickschnack, hier nimmt sich keiner zu wichtig. Der Fußball ist der Mittelpunkt, das macht den Mythos aus.
Und auf der anderen Seite des Fußballs stehen ausgegliederte Kapitalgesellschaften.
Ich bin weit davon entfernt, mit dem Finger auf ausgegliederte Kapitalgesellschaften zu zeigen. Am Ende ist es von der Managementqualität abhängig, ob irgendetwas funktioniert. Eine Pflaume bleibt auch bei Ausgliederung eine Pflaume. Ob man in einer ausgegliederten Gesellschaft oder in einem eingetragenen Verein den Laden nicht führen kann, ändert am Ergebnis nichts. Der Unterschied ist und bleibt meiner Meinung nach: Leute in einem eingetragenen Verein haben ein anderes Verantwortungsbewusstsein. Das ist mein Verein, meine Stimme und mein Beitrag, was zählt.
Das Angebot aus Hamburg für Sie war damals vergleichsweise finanziell unattraktiv.
Na ja, wir verdienen schon alle gut im Profifußball. Es muss sich niemand sorgen. Ich habe aber für mich entschieden, nach 25 Jahren und vier tollen Aufstiegen in die Bundesliga dem Leitsatz „Arbeitszeit ist Lebenszeit“zu folgen. Deshalb habe ich mich für den Verein entschieden, bei dem ich glaube, die höchste Jobzufriedenheit zu haben.
Der FC St. Pauli hat eine politische Dimension. Ein Qualitätskriterium?
Uneingeschränkt. Dass der Klub eine politische Dimension hat, ist klar. Wir haben zu wenig Vereine, die sich politisch bekennen. Wenn man sieht, was in unserem Lande los ist, rechtslastige Tendenzen bei uns, in ganz Europa, Trump, da graut es einem.
Übertragbar ist St. Pauli nicht?
Wir merken, dass die Leute den Fußball so wollen. Ein wenig unaufgeregter, alles ein wenig tiefer hängen. Wir haben den Zuspruch, wir reden nicht nur, wir machen, in der Flüchtlingsdiskussion, beim Eintreten für den Erhalt von 50 plus eins. Da wünsche ich mir in Deutschland ein paar Entscheidungsträger mehr, die den Kopf aus der Deckung strecken. Hier zu lo- ben ist Darmstadt 98 im Fall Änis Ben-Hatira. Politik und Sport kann man nicht trennen, das konnte man noch nie. Wir brauchen ermutigende Signale, mehr Leute, die den Mumm haben, sich zu positionieren.
Danach sieht es in den Verbänden aber überhaupt nicht aus.
Wohl wahr. Gianni Infantino ist mit 115 Stimmen als Fifa-Präsident gewählt worden. Jetzt werden es „nur“48 Teilnehmer an der Weltmeisterschaftsendrunde sein, da werden 67 Verbände aber sauer sein … (lacht).
Jeder denkt nur noch an sich?
Es ist ärgerlich, dass sich viel zu wenige für das Gesamtganze verantwortlich fühlen. Jeder schaut nur auf seinen Laden. Die Sportpolitik spiegelt das wider, das Schmieden von Allianzen. Vetternwirtschaft. Das dient nicht mehr dem Fußball, sondern nur noch Einzelinteressen. In den Verbänden kommt der Sport zu kurz. In den Gremien der Verbände hat der Sport oft gar keine Stimme mehr. Ich war in der DFL der letzte Geschäftsführer Sport. Es geht immer mehr um alles andere, das ist wichtiger als das, was auf dem Rasen passiert.
Die Fußballamateure wehren sich.
Ich verstehe den Frust der Amateure. Der Profifußball hat, zugegeben, eine gute Entwicklung genommen, was wirtschaftliche Stabilität angeht. Aber die Mittelverteilung und -verwendung sind sicher nicht optimal im Sinne einer Solidargemeinschaft.
Immer mehr Verantwortliche wenden sich vom Beschluss 50 plus eins ab (verbietet Kapitalanlegern, die Stimmenmehrheit bei Kapitalgesellschaften zu übernehmen, Anm. d. Red).
Ich bin und bleibe ein Verfechter von 50 plus eins. Angebliche schwindende internationale Wettbewerbsfähigkeit ist kein Argument. Wir sind mit 50 plus eins Weltmeister geworden, wir haben europaweit die höchsten Zuschauerzahlen, wirtschaftlich sind wir auf einem guten Weg. Weil wir die Schwerpunkte richtig gesetzt haben, Lizenzierungsverfahren, Nachwuchsschulung, Trainerausbildung. Nach dem Desaster von 1998 und 2000 bei WM und EM.
Daran erinnern sich offenbar nicht mehr viele.
Was passiert denn, wenn 50 plus eins morgen fällt. Dann beginnt der Wettlauf um die Oligarchen, Greuther Fürth oder Sandhausen oder wer auch immer, wird nicht den großen Investor anziehen. Mit hundert Millionen Euro wird sich ein Investor bei einem Klub engagieren, der Glanz verspricht, um sein Image zu verbessern, neue Märkte zu erschließen. Am Ende wird dann die Bundesliga- oder Zweitliga-Tabelle zu einer Forbes-Rangliste, zu einer Investoren-Tabelle. Wir brauchen ein klares Bekenntnis zu 50 plus eins. Und wir haben gesagt, dass Vereine, die sich nicht an 50 plus eins halten, eine Solidarabgabe leisten sollten, da sie einen wirtschaftlichen Vorteil haben.
Läuft das Millionengeschäft auf eine Europaliga hinaus?
Ich habe kein Problem damit, wenn jemand sagt, dass er sich mit dem FC Barcelona oder Manchester United messen will. Aber uns in Deutschland hat immer die Solidarität der Klubs ausgezeichnet, die wird sukzessive einkassiert. Wir haben einmal Transfermultiplikatoren gehabt, da bezahlte der vermögende Verein für den Transfer desselben Spielers das Mehrfache von dem, was ein weniger vermögender Verein investieren hätte müssen. Heute haben Zweitligisten oder Amateurklubs gar keine Chance mehr, Substanz aufzubauen, weil hoffnungsvolle Talente schon mit 14 Jahren weggekauft werden.
Interview: Christoph Fischer
O
53, ist seit 2015 kaufmännischer Geschäftsleiter und kommissarischer Sportdirektor des Fuß ball Zweitligisten FC St. Pauli. Zuvor war der gebürtige Leverkusener unter an derem von 2006 – 2012 Manager des FC Augsburg. Anschließend wechselte er als Geschäftsführer in die Deutsche Fußball Liga (DFL).