Neuburger Rundschau

Mit ihr fing alles an

Musik Heute vor 100 Jahren wurde die erste Jazz-Schallplat­te veröffentl­icht. Wir haben Experten aus dem Neuburger Birdland gefragt, ob sie sich noch an ihr erstes Exemplar erinnern und was sie damit verbinden

-

Die Original Dixieland Jazzband brachte am 7. März 1917 die Single „Livery Stable Blues“heraus und schrieb damit Geschichte. Denn sie gilt als erste veröffentl­ichte Jazz-Schallplat­te überhaupt. Der Jazz war salonfähig geworden. Auch wenn das noch keine 100 Jahre her sein dürfte, haben wir den Vorsitzend­en des Neuburger Birdland, Manfred Rehm, und zwei unserer Mitarbeite­r für Jazz-Berichters­tattung, die Szenenkenn­er Tobias Böcker und Reinhard Köchl, gefragt, welche ihre erste Jazz-Schallplat­te war.

Meine erste Schallplat­te kaufte ich nach unserer Jazzclubgr­ündung im Herbst 1958 in der Luitpoldst­raße C 79 bei Radio Paulus. Frau Paulus und ihr Sohn Stutz verfügten über ein sehr gut ausgestatt­etes Schallplat­tensortime­nt im Hinterzimm­er ihres Radiogesch­äfts. Meine Wahl fiel auf den Cooljazz Pionier Jerome Richardson, einen amerikanis­chen Altsaxofon­isten und Flötisten, den ich bereits aus dem Radio kannte. Sein aktuelles Album „Midnight Oil“, in Sextettbes­etzung war kürzlich im AFN, dem amerikanis­chen Sender in München, vorgestell­t worden. Ich freute mich sehr, dass ich die Single bei Paulus entdeckt habe. Ich hörte diese Scheibe sehr, sehr oft, Platten waren zu der Zeit noch rar. Cooljazz ist auch heute noch meine bevorzugte Stilart und im Laufe der Jahre konnten wir viele CooljazzIk­onen im Birdland auftreten lassen. Eine besondere Freude war es, dass 40 Jahre später nach dem Kauf meiner erste Platte, im Jahr 1998, Jerome Richardson leibhaftig auf unserer Bühne im Apothekenk­eller stand.

Es war kein Zufall, sondern eher eine Frage der Zeit, bis es passierte. Es begab sich um den Jahreswech­sel 1977/1978 herum, als die erste Jazz-Schallplat­te in mein Leben trat. Damals ging ich noch in Ingolstadt zur Schule und galt als eingefleis­chter, aber nicht unbedingt engstirnig­er Rockund Bluesfan. Unsere ständige Anlaufstel­le war das „Musicland“, ein heute fast legendärer Plattenlad­en in der Sauerstraß­e, der seinerzeit noch Gottfried „Sim“Sandböck gehörte, der später in Neuburg das „Chez Chocolat“eröffnete (das „Musicland“übernahm danach übrigens ein gewisser Günter Grünwald; ja genau der…!). Und Sim hatte immer eine Überraschu­ng auf Lager. „Vielleicht ist das die Musik, die du suchst“, raunte er eines Tages und steckte mir fast konspirati­v ein Cover mit einem fliegenden Hut zu, aus dem sich ein Gewitter über einer Großstadt entlud. Mein „PlattenDea­ler“wusste genau, dass mir bei all den Rocksachen vor allem jene Passagen gefielen, in denen der Schlagzeug­er unvermitte­lt zu swingen begann, wie bei „Lazy“von Deep Purple. In Ingolstadt gab es in jenen Jahren eine starke JazzrockSz­ene, doch ich konnte damit nichts anfangen – bis ich „Heavy Weather“von Weather Report auflegte. Da gab es alles, was ich mir insgeheim immer gewünscht hatte: flirrende Rhythmen, erregende Solos, unvorherge­sehene Tempo- und Tonartwech­sel und vor allem Improvisat­ionen - kurzum: Musik als großes Abenteuer, nicht planbar, ständig überrasche­nd. Eine durchgehör­te Weather Report-Nacht später kaufte ich mir auch John Coltranes Klassiker „A Love Supreme“. Der Beginn einer großen Leidenscha­ft, die mich seither nicht mehr losgelasse­n hat. Heute besitze ich 2000 LPs und fast 40000 CDs, 80 Prozent Jazz. Und Sim, der mir die Augen öffnete, wurde sogar mein Trauzeuge.

„Listen it, but listen it twice“schrieb er mir als Widmung auf die Plattenhül­le. Damals spielte ich selbst noch Gitarre. Zum Winterseme­ster 1980 hatte ich meinen Studienort von Bamberg nach Regensburg verlegt und es gab dort einen Gitarriste­n, von dem meine Kumpels nur so schwärmten: Den aus Köln stammenden Gereon Piller, der später die Blue G. Blues Band gründete. Die brachte es mit dem Altstadtfe­st 1981 zu einer gewissen lokalen Berühmthei­t. Gereon hatte schon 1979 im Studio von Knut Kiesewette­r mit seinem Düsseldorf­er Gitarrenko­llegen Gerhard Krause eine eigene Schallplat­te aufgenomme­n: „Sphinx & Strings“mixte Jazz, Blues und Bossa Nova zu verspielte­n, zumeist melancholi­schen Stimmungsb­ildern. Ich mag die Platte heute noch und habe den Rat sie zweimal anzuhören weit mehr als befolgt. Und obwohl meine eigentlich­e Liebe zum Jazz erst später erwachte, mit einer Aufnahme des Saxofonist­en Dewey Redman, hat mich damals wohl der erste Kuss der Muse berührt. (nr)

 ?? Foto: privat ?? Mit „Heavy Weather“von Weather Report und John Coltranes Klassiker „A Love Supreme“begann für Reinhard Köchl Ende der 70er eine große Leidenscha­ft, die ihn bis heute nicht mehr losgelasse­n hat.
Foto: privat Mit „Heavy Weather“von Weather Report und John Coltranes Klassiker „A Love Supreme“begann für Reinhard Köchl Ende der 70er eine große Leidenscha­ft, die ihn bis heute nicht mehr losgelasse­n hat.
 ?? Foto: Thomas Eder ?? Birdland Vorsitzend­er Manfred Rehm kaufte sich seine erste Platte 1958. Sie war von Cooljazz Pionier Jerome Richardson. Von ihm entstand dann 40 Jahre später im Jazzclub in Neuburg das Foto, auf das Rehm deutet.
Foto: Thomas Eder Birdland Vorsitzend­er Manfred Rehm kaufte sich seine erste Platte 1958. Sie war von Cooljazz Pionier Jerome Richardson. Von ihm entstand dann 40 Jahre später im Jazzclub in Neuburg das Foto, auf das Rehm deutet.
 ?? Foto: elb ?? Tobias Böckers erste Jazzplatte war „Sphinx & Strings“von Gereon Piller und seinem Gitarrenko­llegen Gerhard Krau se.
Foto: elb Tobias Böckers erste Jazzplatte war „Sphinx & Strings“von Gereon Piller und seinem Gitarrenko­llegen Gerhard Krau se.

Newspapers in German

Newspapers from Germany