Mit 67 Jahren plötzlich Bruder
Gefühle Heinz Badura brauchte danach vier Jahre, bis er seine Schwester gefunden hatte. Gesehen haben sie sich noch nie
Als er Gabriella Johnson Mitte September vergangenen Jahres am Telefon hatte, „klang sie sehr abweisend“, erinnert er sich. In einer E-Mail wenige Tage später entschuldigte sie sich dafür. „Aber Sie wissen ja auch, dass in der heutigen Zeit viele Betrüger unterwegs sind und sich als Enkel, Neffen, Brüder, etc. ausgeben“, schrieb sie Heinz Badura. So einer aber war er nicht. Nein: Er hatte endlich seine Schwester gefunden, von der er erst mit 67 Jahren erfahren hatte, dass es sie gibt, und nach der er seit Mai 2012 gesucht hatte. Gesehen haben sich die Geschwister noch nie.
Heinz Badura wusste lange nicht, wer sein Vater ist. Fritz Enders war von 1943 bis 1944 in Gleiwitz in Oberschlesien stationiert. Dann wurde er versetzt. Wohin, das wusste keiner. Ab da hatte auch Margot Badura nichts mehr von ihm gehört. Geblieben war ihr aber das gemeinsame Kind in ihrem Leib. Geheiratet hat sie nie. Ihr Sohn Heinz wuchs als uneheliches Kind auf. Wenn er in der polnischen Schule nach seinem Vater gefragt wurde, sollte er sagen, dass er im Krieg gestorben ist. „Das habe ich auch geglaubt“, erzählt der 71-Jährige heute. 1958 zog er mit seiner Mutter, den Großeltern, einer Tante und einer Cousine nach Neuburg. Er ging zur Schule, lernte bei Otto Seebauer Installateur und Spengler und ging ab 1964 auf Montage. 1967 heiratete er und wurde Vater einer Tochter und eines Sohnes. 2005 starb seine Ehefrau. Seit 2010 ist er in Rente.
Seine Mutter Margot hatte 1960 übers Deutsche Rote Kreuz erfahren, dass ihr ehemaliger Geliebter in Ludwigsburg lebt. Er hatte geheiratet und war am 25. Mai 1939 Vater einer Tochter geworden. 1962 war es in Ludwigsburg zu einer Gerichtsverhandlung gekommen. Damals ging es um Unterhaltszahlungen. Ihr Sohn Heinz erfuhr von alldem nichts. Für ihn kam erst viel später Licht ins Dunkel.
Es war im Mai 2012, als er den Ordner seiner verstorbenen Mutter durchsah, wo sich auch Unterlagen der Gerichtsverhandlung seines Vaters befanden. Er kam auf die Idee, sich auf die Suche nach Fritz Enders zu begeben. Aus den Unterlagen wusste er, dass er 1962 noch in Ludwigsburg gelebt hat. „Da habe ich das Einwohnermeldeamt angerufen und wollte wissen, ob er noch lebt, oder wo er gestorben und begraben ist.“Die Frau am Telefon sei sehr freundlich gewesen, erinnert sich Heinz Badura. Sie wollte allerdings die Unterlagen und eine Kopie seines Personalausweises haben, um ihm dann schriftlich zu antworten.
Den Antwortbrief schickte sie zufällig am 11. Juni 2012, seinem Geburtstag. Darin erfuhr er zum einen, dass sein Vater am 12. Oktober 1962 in Ludwigsburg gestorben ist – und er noch eine Schwester mit dem Namen Gabriele hatte. Diese war nach ihrer Heirat mit James Johnson nach
New York gezogen und hieß mittlerweile Gabriella. „Wow, ich habe eine Schwester und keiner hat mir etwas gesagt“, staunte Heinz Badura – und freute sich riesig über dieses Geburtstagsgeschenk. Jetzt musste er sie nur noch finden.
Er fuhr nach Großbreitenbach,
dem Geburtsort seines Vaters in Thüringen, bekam aber keinen entscheidenden Hinweis. Er wandte sich an die Fernsehsendung „Bitte melde dich“mit Julia Leischik, erhielt aber keine Antwort, recherchierte im Internet und gab irgendwann im Jahr 2014 die Suche auf. Zwei Jahre später, Mitte vergangenen Jahres, als er mit Verdacht auf einen Herzinfarkt im Krankenhaus lag, schossen ihn wieder die Gedanken an seine Schwester in den Kopf. „Ich muss sie finden“, sagte er sich. Er ging davon aus, dass die Lösung nur über den Ort Großbreitenbach führen kann. Und tatsächlich: Nach unzähligen Telefonaten bekam er den Kontakt zu einer Verwandten seiner Schwester. Sie gab ihm die Telefonnummer von Gabriella Johnson in Eschborn bei Frankfurt. Heinz Badura, 71 Jahre alt, hatte seine Schwester gefunden.
Diese hat ein aufregendes Leben hinter sich, ging mit 17 nach England und studierte in Cambridge Psychologie. Danach kehrte sie nach Deutschland zurück und wollte Pfarrerin werden. Aber es kam anders. Sie lernte James Johnson kennen, zog mit ihm nach New York und brachte zwei Kinder zur Welt. Als er starb, kam sie mit ihnen zurück nach Deutschland und zog nach Eschborn bei Frankfurt. In Walter Campbell fand sie einen neuen Lebenspartner.
Dann kam der 28. August 1988 – Ramstein. Eigentlich hatten sie gar nicht vor, die Flugschau zu besichtigen. Sie waren auf dem Heimweg nach Eschborn, als sie zufällig das Schild an der Autobahn bemerkten. Sie überredete ihn schließlich zum Abstecher auf die Air Base. Dort kam es zur Katastrophe. Bei der Vorführung kollidierten drei Jets, es gab 350 Schwerverletzte und 70 Tote – einer von ihnen war Walter Campbell. Gabriella Johnson überlebte. Von den schweren Verbrennungen ist nichts mehr zu sehen. Diese Geschichte erzählte die Frankfurter Rundschau in einem langen Artikel vor vier Jahren, 25 Jahre nach dem Unglück. Gabriella Johnson zog vor vier Monaten nach Neunkirchen im Saarland und folgte damit ihrer besten Freundin, die schon einige Jahre dort lebt. Eine Bandscheibenverletzung bei ihr und ein erneuter Krankenhausaufenthalt von Heinz Badura im Dezember verhinderten ein erstes Treffen vor Weihnachten. Das soll jetzt auf alle Fälle bis Ostern stattfinden. „Wenn alles klappt“, wie der 71-Jährige hofft. Denn ihm steht ein Eingriff am Herzen bevor.
Letztlich könnte nur der gesundheitliche Zustand es verhindern, dass sich die Geschwister dann bei Gabriella in Neunkirchen erstmals gegenüberstehen werden. Die anfängliche Zurückhaltung haben die 78-Jährige und ihre zwei Kinder mittlerweile abgelegt, nachdem sie die Geschichte von Heinz Badura, kennen. „Ende November hat sie mir das Du angeboten“, sagt er mit Tränen in den Augen.