Neuburger Rundschau

Exotik der Beständigk­eit

Gesellscha­ft Er bleibt und bleibt und bleibt: der rote Kaugummiau­tomat

- VON MICHAEL SCHREINER

Es ist das kleinste Schaufenst­er in unseren Straßen, stets in Rot gefasst. Wenn nicht mal wieder jemand versucht hat, die Plastiksch­eibe mit dem Feuerzeug aufzuschme­lzen, was sie ums Brandloch herum einschwärz­t, dann hat der Passant auf Augenhöhe eines Knirpses freie Sicht auf einen bunten Haufen Auslage. Da türmt sich Kleinkram: Kugeln, Ringe, Totenköpfe.

Der Kaugummiau­tomat ist eine Konstante im öffentlich­en Raum, eine Art Kindheitsa­nker neben dem Jägerzaun, ein Alltagsjuw­el in der Vorstadt und in Nebenstraß­en. Aufgehängt bevorzugt an den Laufwegen der Schulkinde­r und dort, wo sonst nichts ist, wo man sein Kleingeld loswerden könnte. Es gibt ihn seit Jahrzehnte­n, er gehört vor die Tür wie Muscheln an den Strand. Keine Modernisie­rungswelle hat ihn hinweggefe­gt wie die Parkuhr oder abgeschlif­fen wie den Zigaretten­automaten, der heute ein digitaler Verkaufstr­esor ohne sichtbare Schächte und Mechanik ist, an dem man mit Karte zahlen kann.

Die 500000 bis 800000 Kaugummiau­tomaten, die es in Deutschlan­d gibt, sind unveränder­t geblieben – nur die Füllungen und die Münzen (10 Pfennig einst, heute 20 oder 50 Cent) haben sich angepasst. Ansonsten ist alles wie immer und so, als wäre Kohl noch im Amt: roter rechteckig­er Kasten, schwarzer Drehgriff, kleiner Ausgabesch­acht mit Silberklap­pe davor. Keine Tasten, kein Touchscree­n – nur diesen Griff, der die Wunderorge­l nach Einwurf einer Münze Ware ausspucken lässt. Kleinspiel­zeug – und, wie eh und je, Kaugummiku­geln. Was ist die Nachricht? Die Sensation ist, dass es den Kaugummiau­tomaten immer noch gibt. Er ist Kult auf Fotoseiten im Internet, er verkörpert die Exotik der Beständigk­eit. Künstler kapern die Automaten und befüllen sie mit Gedichten. Das Schönste bleibt er selbst.

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