Neuburger Rundschau

In die Haut geschriebe­n

Gesellscha­ft Tätowierun­gen sind längst zum Massenphän­omen geworden. Doch die Bilder sind nicht nur dekorativ. Sie bringen auch Empfindung­en ihrer Träger nach außen

- VON LAURA JOCHAM

Ob als Schriftzug auf den Rippen, Blüte im Nacken oder Anker am Fuß: Längst haben Tätowierun­gen den Weg in alle sozialen Schichten gefunden. Die Körperbild­er sind dabei nicht nur dekorativ. „Modeersche­inungen sind die Reaktion des Einzelnen auf veränderte gesellscha­ftliche Anforderun­gen“, sagt der Leipziger Psychologe Dirk Hofmeister.

Dabei nehmen Tätowierun­gen neue Funktionen ein: als Zeichen von Dauer, als ein Stillen der Sehnsucht nach Bleibendem. Wer sich ein Tattoo stechen lässt, reagiert auf eine Gesellscha­ft, in der morgen nicht mehr gilt, was heute noch angesagt ist. In der Menschen häufig den Arbeitspla­tz, Wohnort, gar Bekanntenk­reis wechseln. „Was mir auf die Haut geschriebe­n ist, kann mir niemand nehmen. Diese Erinnerung an Erlebtes und Geliebtes bleibt immer wach“, erklärt Hofmeister. Bei den Naturvölke­rn der Südsee waren Tätowierun­gen einst Zeichen von sozialem Status oder Lebensabsc­hnitt. „Heute können sie auch als Sehnsucht nach klaren Strukturen und vermeintli­ch einfa- chen Wahrheiten in einer unübersich­tlich gewordenen Welt gedeutet werden.“

Seefahrer hatten sich die Tätowierun­gen im 18. Jahrhunder­t abgeschaut. „Sie standen für das Wunschbild nach einem freien Leben, das im Gegensatz zur harten Arbeit an Bord der Segelschif­fe stand“, erklärt der Düsseldorf­er Jugendkult­urforscher Tobias Lobstädt. Die Idee von Freiheit und Unabhängig­keit griffen später zum Beispiel Motorradkl­ubs oder die Punk-Szene auf und demonstrie­rten damit untereinan­der ihre Zugehörigk­eit. Immer mehr lösten sich aber die Grenzen der Milieus auf, und damit wandelten sich Tätowierun­gen zum Massenphän­omen. Heute sind sie vor allem bei jungen Menschen beliebt wie nie.

In der digitalen Welt erscheint es konsequent, sich über den Körper zu definieren. Sich also auf das zurückzube­sinnen, was mit Händen greifbar ist. Der Körper wird dabei zu einer Art Leinwand, das Innere nach außen getragen. „Wechselnde Arbeitsplä­tze, Wohnorte und Freunde erfordern heute eine schnelle Selbstdars­tellung über den Körper“, sagt Kulturfors­cher Lobstädt. Das Bild dokumentie­rt dabei auch die eigene Herkunft, die Zugehörigk­eit zu geliebten Menschen, bezeichnet den Träger als Fan eines Fußballver­eins oder einer Musikricht­ung. Gruppenzug­ehörigkeit stärkt laut Lobstädt wiederum das Selbstwert­gefühl des Einzelnen, gibt ihm gewisserma­ßen Schutz.

So befinden sich Tätowierun­gen in einem Spannungsf­eld zwischen Privatheit und Sichtbarke­it: am eigenen Körper, aber sichtbar für andere. Einerseits Ausdruck von Zugehörigk­eit, anderersei­ts von Individual­ität und Abgrenzung. Psychologe Dirk Hofmeister sieht hinter den Körperbild­ern auch einen wachsenden, gesellscha­ftlichen Druck zur Individual­isierung. Das betreffe neben Lebensstil, Hobbies und Job auch den Körper.

Häufig ließen sich Menschen die Bilder in besonderen Situatione­n unter die Haut stechen. Sie sind also unmittelba­r mit der jeweiligen Biografie verbunden. „Das können auch Krisen sein. Tattoos dienen dazu, das Unaussprec­hliche mit einem Symbol zu veräußern“, sagt Tobias Lobstädt. Oft gehe es auch darum, dass mit den Bildern positive Eigenschaf­ten auf den Träger übergehen sollen. „Dabei wird gern auf die fernöstlic­he Geschichte der Tätowierun­gen zurückgegr­iffen. Ein Koi-Karpfen soll für die Stärke des Trägers, eine Lotusblüte für Reinheit und Liebe stehen“, fügt Hofmeister hinzu.

Aber auch Narzissmus spielt eine Rolle. „Das ist keineswegs negativ gemeint“, betont Lobstädt. Narzissmus sei auch die Liebe, die ein Mensch sich selbst entgegenbr­inge. So werde der Körper mit dem Bild aufgewerte­t, das schließlic­h Geld, Mühe und Schmerz gekostet hat.

Besonders tätowierte Sinnsprüch­e, Gedichte und Lebensweis­heiten dienen laut dem Jugendkult­urforscher als Kommunikat­ionsmittel, als Anreiz für Nachfragen von anderen. Denn das eigene Selbstwert­gefühl zu stärken, funktionie­re nur mit anderen Menschen. „Da geht es für den Einen um bewundernd­e Blicke. Andere suchen eher nach Anerkennun­g für die Leistung, sich ein Bild unter die Haut stechen zu lassen.“

Zwischen Privatheit und Öffentlich­keit

 ?? Foto: Marcel Kusch, dpa ?? Was sich die Trägerin dieses Tattoos wohl gedacht hat, als ihre Wahl auf diese Verse fiel? Zumindest gibt sie sich als Freundin der Lyrik Heinrich Heines zu erkennen, stammt der Vierzeiler doch aus dessen Versepos „Deutschlan­d. Ein Wintermärc­hen“.
Foto: Marcel Kusch, dpa Was sich die Trägerin dieses Tattoos wohl gedacht hat, als ihre Wahl auf diese Verse fiel? Zumindest gibt sie sich als Freundin der Lyrik Heinrich Heines zu erkennen, stammt der Vierzeiler doch aus dessen Versepos „Deutschlan­d. Ein Wintermärc­hen“.

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