Ausmalen ist männlich
Neulich am Grantlereck saß ein Mann. Er war offensichtlich hochgewachsen, kauerte aber im Schneidersitz auf dem Stein vor dem Bücherturm. Auf seinem Schoß lag ein Buch, vertieft schien er etwas reinzuschreiben. Dabei pfiff er fröhlich vor sich hin, schaute hin und wieder auf das strahlende Blau des Himmels und widmete sich wieder seinem Buch.
Herrlich, ein Freigeist! Schreibt sicher an einem Roman, dachte sich ein sehr alter Mann beim Vorbeigehen und fragte, was er da tue. „Ich male Autos aus“, antwortete der Mann, der den Grantlerstein für sich vereinnahmt hatte. „Gerade habe ich einen Ford Mustang grün ausgemalt, für einen Autoliebhaber wie mich ist es das Größte.“Kopfschüttelnd entgegnete der Greis, dass er das nicht glauben könne. „Wie kindisch! Mein Enkel malt Tierbilder und Autos. Aber du, du bist doch kein Kind mehr.“Ein richtiger Mann gehe eine Runde bolzen oder treffe sich mit seinen Freunden im Biergarten, wenn er frei hat. „Aber Bilder ausmalen? Das würde mir im Lebtag nicht einfallen“, sagte der alte Mann mit Nachdruck.
Das höre er oft, entgegnete der Autoliebhaber. „Aber wissen Sie, ich habe einen sehr stressigen Job. Ich stehe täglich unter Druck, Familie, Kunden und Mitarbeitern gerecht zu werden. Ausmalen beruhigt mich sehr. Seitdem ich dieses Hobby habe, bin ich viel ausgeglichener.“Und überhaupt sei das derzeit ein riesiger Trend. Sehr viele Erwachsene – egal ob Männer oder Frauen – greifen zu Buntstiften, malen Unterwasserwelten, einen Zauberwald oder eben Autos aus.
Der Greis verstand die Welt nicht mehr. Er überlegte eine Weile und setzte noch einmal an: „Stress kannst du doch nur abbauen, wenn du dich sportlich richtig verausgabst. Und du sitzt nur rum und malst stupide Autos aus.“Das sei auf Dauer eintönig. „Und mir scheint auch, dass du nicht sonderlich talentiert bist. Über etliche Linien hast du gemalt!“, schloss der Greis gehässig ab. Der Mann auf dem Grantlerstein hörte sich das an und seufzte. Diese Debatte habe er schon etliche Male geführt. Die Kritiker könne er nicht bekehren, aber zu den übermalten Linien sagte er nur eins: „Meine Bilder müssen nicht perfekt werden. Das Ergebnis wird immer schön bunt sein. Und nun gehen Sie mir bitte aus der Sonne. Ich möchte mich auch an dem guten Wetter erfreuen, oder ist das etwa auch nicht männlich genug?“
Die Grantler