Eiskalt erwischt
Philipp Blom Warum das Klima die Macht bedroht
An Klimaexperten herrscht kein Mangel. Jetzt tritt auch noch Philipp Blom als solcher in Erscheinung, obwohl er als Philosoph und Historiker bisher nicht einschlägig aufgefallen ist. Schreit da also noch einer: „Klimalüge!“? Mitnichten. Blom interessiert sich, ganz seiner Profession entsprechend, nur mittelbar für langfristige Veränderungen bei Wetter und Niederschlägen. Er fragt vielmehr, wie Gesellschaft auf diese reagieren. Politischkulturelle Klimakunde also. Die ist ihm gelungen.
Blom nimmt die Kleine Eiszeit in den Blick, eine außergewöhnliche Kälteperiode zwischen dem Ende des 16. bis Mitte des 17. Jahrhunderts. Zahlreiche Bücher und Ausstellungen haben die Umwälzungen dieser Epoche schon beschrieben. Blom hat dem wenig Neues hinzuzufügen, aber er erzählt souverän und bildhaft. Das Klima zum Ausgang des Mittelalters hat in Europa für Temperaturen gesorgt, die deutlich milder sind als im Durchschnitt des 20. Jahrhunderts. Trotz regelmäßig wiederkehrender Missernten ist die Versorgung mit Wein und Getreide, den wichtigsten Lebensmitteln, gesichert. Nach den von der Pest verursachten Verheerungen wächst die Bevölkerung im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts um gut 20 Prozent. Aber dann.
Binnen weniger Jahrzehnte brechen die Durchschnittstemperaturen um vier bis fünf Grad ein. Mit einem Mal steht das auf Getreideanbau und Leibeigenschaft basierende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf der Kippe. Die von vormodernen Ackerbau-Methoden ausgelaugten Böden sollen mehr Menschen ernähren. Doch die Winter sind länger und eisiger; im Sommer ist es kalt oder es regnet im Übermaß, und immer wieder verwüsten Unwetter das Land – nicht überall und nicht im gleichen Ausmaß, aber deutlich belegt in Aufzeichnungen und natürlichen Klimadatenspeichern wie Gletschern oder den Wachstumsringen von Bäumen. Hunger wird zum Problem, Revolten brechen aus und werden gewaltsam niedergeschlagen. Herrscher und Adlige, ohnehin ständig in Kriege und Konflikte involviert, kämpfen nun auch mit chronisch leeren Kassen. Die Welt, wie sie ist, wird einstürzen. Was aus den Trümmern entstehen wird, ist ungewiss. Nur wenige Generationen später leben die Menschen in völlig anderen Zusammenhängen.
Einschränkung: Natürlich steht, wer all diese Umstürze und Veränderungen auf den Klimawandel zurückführen wollte, schnell auf dünnem Eis. Europäische Entdecker befahren die Weltmeere, Gelehrte und Philosophen vermessen die Himmel in jeder Beziehung neu – und landen dafür auf dem Scheiterhaufen oder in der Verbannung. Fürsten und Bischöfe haben Angst um ihre Macht. Erst recht, seit mit Luther die Einheit der Kirche zerbröselt ist und verheerende Religionskriege den Kontinent ausbluten. Die Kleine Eiszeit verstärkt einen unaufhaltsamen politisch-weltanschaulichen Klimawandel. Und damit ist man, quasi nebenbei, bei Bloms eigentlichem Thema gelandet: Gesellschaftsund Kapitalismuskritik.
So elegant wie seine Herleitung ist auch seine Argumentation. Obwohl wir es lange nicht merkten, so Blom, sind wir längst mittendrin im nächsten Klimawandel. Demokratie und Menschenrechte, auf die wir so stolz sind, galten nie für alle. Reich wurden wir auf Kosten von Sklaven, Kolonien und billigen Arbeitskräften. Das gilt noch immer. Oder erst recht, da wir in unserer Sehnsucht nach Transzendenz, nach einem übergeordneten Ziel, unsere Gesellschaft zum Anhängsel des Marktes degradiert haben. Widersprüchliche Ideale und entwurzelte Individuen – ob uns die Anpassung an die Zumutungen der Moderne gelingt? Alle Fragen offen. Matthias Zimmermann