Beklemmende Spurensuche
Natascha Wodin Die Autorin formt aus dem Schicksal ihrer Mutter große Literatur
Eine Frau fortgeschrittenen Alters setzt sich vor den Computer und gibt den Namen ihrer vor sehr langer Zeit verstorbenen Mutter in die Suchmaschine des russischen Internets ein – Jewgenia Jakolewna Iwatschenko. Nicht zum ersten Mal sucht sie auf diese Weise nach Spuren. Zum ersten Mal jedoch erhält sie sofort einen Treffer, hinterlässt auf der Seite eine Nachricht, eine Woche später erreicht sie eine E-Mail eines russischen Hobbygenealogen ... Was dann folgt, ist nun nachzulesen in Natascha Wodins Buch „Sie kam aus Mariupol“, nominiert in der Sparte Belletristik und auf jeden Fall den Preis wert, wenngleich es sich eher um eine romanhafte Biografie handelt. In schnörkelloser, aber eindringlicher Sprache schreibt Natascha Wodin über das Schicksal von Millionen ausländischer Zwangsarbeiter in deutschen Lagern während des Zweiten Weltkriegs, formt aus einem dieser Schicksale große, beklemmende Literatur: dem ihrer „meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter“, die 1956 den Tod in der Regnitz suchte.
Was der damals Zehnjährigen von der Mutter blieb: ein paar Bilder, eine kostbare Ikone, so viel Erinnerung, wie ein Mädchen mit sich nehmen kann, kaum Wissen über deren Lebensgeschichte. Die Mutter sprach nie über ihre Herkunft. „Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übrig geblieben war“, schreibt Natascha Wodin, geboren 1945, aufgewachsen in den ersten Jahren ihres Lebens in einem Lager für „Displaced Persons“. Das wenige, was sie über ihre Mutter wusste, so glaubte die Schriftstellerin, habe sie sich als Kind selbst zusammengereimt. Die Recherche ergibt nun: Das wenige stimmt. Die Mutter, geboren in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol, stammt aus einer einst großbürgerlichen, während der RevoMutter, lution enteigneten Familie. Wodin findet eine Cousine in Kiew, deren Vater ein unter Stalin ausgezeichneter Opernsänger war, einen Cousin in Sibirien, der ihr die Memoiren ihrer dorthin einst verbannten Tante zusendet, und einen Großneffen in der Nähe von Moskau, der in einer E-Mail gesteht: Er habe die eigene Mutter umgebracht.
Wie aus dem Nichts erscheint ihre Familie und deren Geschichte, die Lücken füllt sie mit ihrer Fantasie: „Ich nehme an...“Sie versucht dem Leben ihrer Mutter zu folgen, von Mariupol bis nach Leipzig, wo sie als Zwangsarbeiterin eingesetzt wurde. Und beendet die Spurensuche mit ihren Kindheitserinnerungen – gejagt von den Mitschülern als russische Barbarin. Ob sie die Nominierung für den Preis als Genugtuung empfinde, wurde die Autorin in einem Interview gefragt. „Wenn“, sagte Wodin, „dann für meine Mutter und all die Namenlosen, die ihr Schicksal geteilt haben.“