Sie wollte ihre beiden Kinder abholen. Jetzt ist sie tot Im Angesicht des Terrors
Großbritannien Am Morgen nach dem Anschlag erwacht London mit einer gehörigen Portion Trotz. Wir lassen uns nicht unterkriegen, sagen die Menschen demonstrativ. Und feiern einen Politiker, der verzweifelt um das Leben eines Opfers gekämpft hat
Draußen wehen die Fahnen auf halbmast, die Hubschrauber kreisen unermüdlich über dem Westminster-Palast. Und drinnen kämpft der stille Held sichtlich mit seinen Emotionen. Er presst die Lippen aufeinander und nickt nur kurz und peinlich berührt zum Dank, als Premierministerin Theresa May ihn im Parlament für seinen Einsatz lobt. Alle Augen sind auf Tobias Ellwood, 50, gerichtet. Jenem Abgeordneten der Konservativen, Staatssekretär im Außenministerium, der diesem Morgen in London bei all der Grausamkeit und Trauer so etwas wie Menschlichkeit verleiht. Und gleichzeitig auch eine unglaubliche Tragik.
Zu diesem Zeitpunkt haben die ersten Medien bereits Fotos verbreitet, die Ellwood am Vortag am Ort des Terrors zeigen. Wie er sich direkt vor dem Parlamentsgebäude in seinem Anzug über den schwer verletzten Polizisten Keith Palmer beugt. Wie er versucht, ihn mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage wiederzubeleben. Wie er nach den erfolglosen Maßnahmen ratlos, erschöpft und fast einsam in der Gruppe der Helfer steht, Stirn und Hände blutverschmiert.
In der Tat steht sein Gesicht für die menschliche Seite dieses unmenschlichen Terroranschlags, bei dem am Mittwochnachmittag fünf Menschen getötet und rund 40 verletzt wurden, darunter auch eine Deutsche. Ein Verbrechen, dessen Täter nun auch einen Namen hat: Khalid Masood, ein in der Grafschaft Kent geborener 52-jähriger Mann, den die Behörden aufgrund von Gewaltdelikten und unerlaubtem Waffenbesitz schon kannten. Und der angeblich „im Auftrag“des sogenannten Islamischen Staates handelte, wie dieser behauptet.
Er war es, der auf der Westminster-Brücke im Zentrum Londons mit einem grauen Hyundai Tucson auf den Bürgersteig raste und laut Augenzeugen mehrere Menschen „regelrecht ummähte“. Später krachte das Auto in einen Zaun. Masood stieg aus und stach beim Versuch, in den Westminster-Palast einzudringen, mit einem langen Messer auf den 48-jährigen, unbewaffneten Polizisten und Familienvater Keith Palmer ein, der seit 15 Jahren zu der Einheit gehörte, die mit der Sicherheit des Parlaments betraut ist. Schließlich erschossen Beamte den Angreifer.
Unter den Toten ist Aysha Frade. Die Britin, 43, Lehrerin mit spanischen Wurzeln, wollte gerade ihre beiden Kinder, acht und elf Jahre alt, von der Schule abholen, als sie von dem Auto erfasst wurde. Auch der US-amerikanische Tourist Kurt Cochran verlor auf der Brücke sein Leben. Er und seine Frau, die noch im Krankenhaus liegt, waren nach London gereist, um ihren 25. Hochzeitstag zu feiern. Noch nichts bekannt ist über den 75 Jahren alten Mann, der sehr schwer verletzt wurde und dessen Tod die Londoner Polizei am späten Donnerstagabend mitteilte. Unter den Verletzten sind zwölf Briten und eben eine Deutsche, aber auch Franzosen, Rumänen, Südkoreaner, ein Pole, ein Ire, ein Chinese, ein Italiener und zwei Griechen.
Es überrascht nicht, dass die Opfer aus so vielen Ländern stammen. Die Attacke traf London mitten ins Herz. Hier drängen sich die Touristenmassen auf den Gehsteigen, Parlamentsangestellte hasten in ihre Büros, Bürger treffen auf ihre Abgeordneten. Westminster ist das Zentrum der britischen Demokratie, Wahrzeichen der Stadt und gleichzeitig Pflichtstation aller Besucher. Am Mittwoch jedoch übertönte Sirenengeheul die tiefen Schläge der berühmten Glocke Big Ben.
In den heiligen Hallen des Unterhauses, das am Tag danach wie gewohnt zusammenkommt, sagt Theresa May nach einer Schweigeminute: „Wir haben keine Angst, und unsere Entschlossenheit wird angesichts des Terrorismus niemals wanken.“Die Regierungschefin hat am Abend zuvor zu der Sitzung aufgerufen. Die Londoner würden aufstehen, hat sie gesagt, und ihren Tag wie immer verbringen.
Tatsächlich, die Metropole macht weiter. In einer Mischung aus Schock und Trotz, Trauer und Kampfeslust pendeln die Menschen zur Arbeit, joggen in den Parks, kehren in Cafés ein und gehen shoppen. In U-Bahn-Stationen sollen Botschaften auf Schildern den Fahrgästen Mut machen. „Alle Terroristen werden höflichst daran erinnert, dass das hier London ist und dass wir – egal was ihr uns auch antut – Tee trinken und uns nicht unterkriegen lassen werden“, heißt es etwa. Das Regierungsviertel füllt sich mit Menschen, und selbst die Westminster-Brücke ist schon nach 24 Stunden wieder geöffnet. Es dauert nur wenige Minuten, bis Trauernde hier Blumen zum Gedenken an die Opfer niederlegen.
Und trotzdem: Anspannung und Betroffenheit sind spürbar. „Uns ist schon ein bisschen mulmig zumute“, sagt Ann, 23-jährige Kellnerin eines Fast-Food-Restaurants am Oxford Circus. „Aber wenn wir aufhören, unseren Alltag zu leben, haben die Bösen gewonnen.“Ein spanisches Paar, das Urlaub macht, nickt zustimmend und macht sich auf zum Buckingham-Palast. Am Abend gibt es am Trafalgar Square eine Mahnwache, bei der tausende Kerzen an die Opfer erinnern.
Als es in der Nacht zum Donnerstag endlich Entwarnung gab, herrschte im Regierungsviertel noch gespenstische Stille. Auf der Westminster-Brücke standen in der Dunkelheit die Doppeldecker-Busse und Autos, deren Insassen Zeugen der schrecklichen Minuten am Nachmittag geworden waren. Nun ragten die Fahrzeuge wie Mahnmale
Der Bruder starb 2002 bei den Anschlägen auf Bali
aus der Sperrzone. Als vor der National Gallery am Trafalgar Square eine Rangelei zwischen zwei Obdachlosen ausbrach, eilte in Sekundenschnelle gleich ein Dutzend Beamte herbei. Die Polizei in ihren neongelben Jacken, sie war überall.
Um die Ecke wartete derweil eine durchgefrorene Schulklasse aus Thüringen seit Stunden auf ihren Reisebus, der sie aus der Hauptstadt in ihre Unterkunft im fern gelegenen Bournemouth bringen sollte. „Wir haben Angst“, gab einer der Schüler zu. Es sollte nicht die einzige Besuchergruppe sein, die am Abend schockiert, aber erleichtert die Stadt verließ. Vor der neuen Zentrale von Scotland Yard standen Kamerateams und warteten auf Neuigkeiten. Eigentlich hätte das Domizil gestern von der Königin eingeweiht werden sollen. So weit kommt es nicht. Dafür spricht die Queen öffentlich den Opfern und Angehörigen ihr Mitgefühl aus.
Dieser Tag weckt bei den Briten schlimme Erinnerungen an den 7. Juli 2005. Damals sprengten sich in London vier Selbstmordattentäter der Islamisten-Gruppe Al-Kaida in drei U-Bahn-Zügen und einem Bus in die Luft und ermordeten 52 Unschuldige. Der Horror von 7/7 löste ein nationales Trauma aus, das bis heute nicht überwunden ist. Seitdem bestimmt das Sicherheitsthema die Debatten. Schon lange gilt für London die zweithöchste Terrorwarnstufe, nach der ein Anschlag für „sehr wahrscheinlich“gehalten wird. Diese werde trotz der Attacke nicht erhöht, bekräftigt Theresa May. Bürgermeister Sadiq Khan weist darauf hin, dass die Behörden in den vergangenen Jahren 13 Anschläge vereitelt hätten. Seit geraumer Zeit sind zusätzliche Sicherheitskräfte im Einsatz. Überwachungskameras hängen an fast jeder Straßenecke, an Plätzen, auf Bahnhöfen, in Kaufhäusern.
Diesen Anschlag konnten auch sie nicht verhindern. So wie Tobias Ellwood das Leben von Keith Palmer nicht retten konnte. Welche Tragik steckt in seiner Geschichte. Schon einmal musste der Abgeordnete schmerzliche Erfahrungen mit dem Terror machen. Bei den Anschlägen in zwei Diskotheken auf Bali im Jahr 2002 verlor er seinen Bruder. Nun bekommt der frühere Berufssoldat Anerkennung aus allen Teilen der Welt. „Manchmal vergessen wir, dass unsere Abgeordneten Menschen sind. Gestern haben Sie uns gezeigt, dass sie auch außergewöhnlich mutig sein können. Vielen Dank“, twittert eine Britin.
Die Londoner versuchen, sich auf das Positive zu besinnen. Und das zutiefst britische Mantra „Keep calm and carry on“zu beherzigen: weitermachen, den Terroristen zeigen, dass man sich nicht einschüchtern lässt. Auch wenn das in diesen Stunden schwerfällt.