Wo jede Oberflächlichkeit verblasst
Exerzitien In der Fastenzeit suchen viele Menschen nach einem bewussteren Leben. Geistliche Übungen sind ein Weg dorthin. Warum die Stille so wichtig ist, um zur Besinnung zu kommen
Das Mittagslicht fällt hell in das gewölbte Rund. Es spiegelt sich im Lack der Holzbänke und wird von weißen Wänden und dem lichten Marmorboden reflektiert. Nur die Augen von Dana Placido erreicht es nicht. Sie hat ihre Hände ineinander gelegt und die Lider geschlossen. Hoch oben auf der Neuburger Luisenhöhe, in der Kapelle der Maria-Ward-Schwestern, hat sie sich zum Gebet zurückgezogen. Sie nimmt an geistlichen Übungen, sogenannten Exerzitien, teil. Während die großen, bodentiefen Fenster einen Blick auf die Altstadt freigeben, rückt das Getriebe des Alltags nicht nur räumlich in weite Ferne. Kein Ton ist zu hören, und auch in Dana Placido wird es still.
Die Ruhe hatte nicht immer einen Platz im Leben der heute 68-Jährigen. Als Übersetzerin in der Firmenzentrale eines der größten deutschen DAX-Unternehmen hatte sie mehr als 30 Jahre in München gelebt und gearbeitet, die Betriebsamkeit der globalisierten Geschäftswelt war ihr Tagesgeschäft. „Ich bereue nichts“, kann sie heute sagen – weder die Rastlosigkeit des Berufslebens, noch die Reisen, noch die Ehe mit ihrem Mann, der inzwischen verstorben ist. Allein der Takt der Großstadt, die Masse an Menschen, das sei nie wirklich das Ihre gewesen.
Die Abgeschiedenheit während der Exerzitien bei den Maria-WardSchwestern bietet ihr ein Kontrastprogramm. Zehn Tage dauern die spirituellen Übungen in der Regel. Während dieser Zeit wohnt sie in einem Einzelzimmer ohne Fernseher und verpflichtet sich, zu schweigen – auch Handy und Laptop sind tabu. „Das Ziel ist es, in Kontakt mit sich, dem eigenen Leben und Gott zu kommen“, erklärt die Leiterin des Ordens, Oberin Monika Glockann. Der Tagesablauf während des Aufenthalts ist strukturiert durch eine Eucharistiefeier, Essenszeiten und ein Gespräch mit einer geistlichen Begleiterin. Von ihr erhält Dana Placido Impulse für vier Gebetseinheiten am Tag. Sie bilden den Kern der Exerzitien.
Die Impulse orientieren sich am Leben Jesu. „Von der Geburt über die Berufung bis hin zum Tod und der Erlösung“, erläutert die Oberin. Grundlage dafür seien Texte von Ignatius von Loyola, dem Begründer des Jesuitenordens, sowie Stellen aus der Heiligen Schrift und Bilder, die sich hervorragend zur Meditation eignen würden. Ziel der Übung sei es, dass die Teilnehmer durch die Impulse zur Reflexion über sich selbst angeregt würden, sagt die Oberin.
Ein mitunter schmerzhafter Prozess, bei dem die Teilnehmer – ähnlich einer Psychoanalyse – mit den eigenen Stärken und Schwächen, Ängsten und Sorgen, Talenten und Wünschen konfrontiert werden. „Da kann es schon mal sein, dass einem die Tränen kommen“, sagt Dana Placido. Dass Exerzitien „Arbeit an einem selbst“sind, merke sie auch daran, dass sie jeden Tag eine halbe Stunde Mittagsschlaf benötigt – entgegen ihrer Gewohnheit. Für viele sei es außerdem schwer, sich in ihrer Körperlichkeit anzunehmen, weiß die Oberin. Auch die Vergangenheit und falsche Entscheidungen, sei es im Beruf oder der Partnerschaft, würden vielen Teilnehmern zu schaffen machen.
Ein Anlass, der viele Menschen dazu bewegt, an Exerzitien teilzunehmen, sind anstehende Lebensentscheidungen. „Sie kommen her und erhoffen sich Klarheit für sich und ihre Zukunft“, sagt die Oberin. Dabei stellt sie eines klar: „Die Schwestern können nur Begleitung sein, die Antwort muss in jedem selbst liegen.“Die Auseinandersetzung damit existenziellen Fragen sei jedoch befreiend und könne in ein bewussteres Leben führen. Im Idealfall steht am Ende der Exerzitien eine spirituelle Erfahrung, die durch das weitere Leben trägt: „Erkenntnis über den Weg, den Gott für mich bestimmt hat, die Fähigkeit, diesen zu bejahen und Mut, Dinge zu ändern.“
Egal ob Schüler, Studenten, Menschen aus der Mitte des Lebens oder Senioren – die Nachfrage nach spirituellen Angeboten außerhalb etablierter Großkirchen sei in den vergangenen Jahren gestiegen, bestätigt Glockann. Während sich religiöse Institutionen und der moderne Mensch wechselseitig voneinander entfremdet haben, ist die Sehnsucht nach Sinn und spiritueller Beheimatung ungebrochen. Vermehrt werden dabei jahrhundertealte Ordenstraditionen wiederentdeckt. „Zu uns kann jeder kommen, der den Kontakt zu sich, seinem Leben und Gott vertiefen möchte.“
Für Dana Placido schließt sich ein Kreis. Sie ging als Kind bei den Maria-Ward-Schwestern in Aschaffenburg zur Schule, dann hatte sie „eine lange, lange Zeit andere Dinge im Kopf“. Als sich der Vorruhestand näherte und sie ihrem Leben einen neuen, tieferen Sinn geben wollte, kam sie über eine damalige Lehrerin erneut in Kontakt mit der ignatianischen Spiritualität. Und war ergriffen. Inzwischen nimmt sie nicht nur einmal im Jahr an Exerzitien teil, sondern hat München den Rücken gekehrt, ist nach Neuburg gezogen und ist den Maria-Ward-Schwestern als assoziierte Laiin verbunden.