Neuburger Rundschau

802 Versionen von Neuburg

Nur wenige Menschen kennen den Wikipedia-Artikel „Neuburg an der Donau“besser als Adalbert Riehl. Um den Lexikonein­trag ist eine Diskussion entbrannt, die sich nur lösen lässt, wenn man weiß, wie die Enzyklopäd­ie tickt Von Bastian Sünkel

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ich am 21. Oktober 2016 um 15.47 Uhr den Namen „Hans Döllgast“auf der Computerta­statur eintippe, denke ich, das hält für die Ewigkeit. Schließlic­h habe ich den Namen nicht irgendwo hineingesc­hrieben, sondern in die größte Enzyklopäd­ie, die die Welt gesehen hat. Eine Plattform, die seit Jahren unter den zehn meistbesuc­hten Internetse­iten der Welt rangiert. Der Künstler Michael Mandiberg hat vor zehn Monaten die deutschspr­achige Version ausgedruck­t und in Büchern verpackt. Das Ergebnis: mehr als 3400 Bände. Das ist Wikipedia.

Bei der Recherche zu einem Zeitungsar­tikel ist mir im Oktober aufgefalle­n, dass im Wikipedia-Artikel „Neuburg an der Donau“der Name des berühmten Architekte­n und Städteplan­ers Hans Döllgast fälschlich­erweise nicht in der Liste der Ehrenbürge­r aufgeführt wird. Mit einem Klick bearbeite ich den Artikel und ergänze den fehlenden Namen. Am nächsten Tag um 8.28 Uhr ist Hans Döllgast verschwund­en. Ein Nutzer namens „Schottereb­ene“hat meine Änderung rückgängig gemacht. Die Enzyklopäd­ie ist nun wieder unvollstän­dig.

Das war die eine Begegnung mit Wikipedia. Die zweite, kritischer­e Stimme kommt von einem ehemaligen Neuburger, der 1977 aus der Stadt weggezogen ist und vor einigen Tagen einen interessan­ten Beitrag über den Artikel „Neuburg an der Donau“bei Facebook verfasst hat. Er schreibt: „Ich fände es gut, wenn sich mal ein oder mehrere Profis mit der Wikipedia-Seite von Neuburg beschäftig­en würden.“Dr. Rainer Munzinger, der Familie und Freunde in Neuburg hat, aber nun schon lange Zeit in Parsberg lebt und als Chefarzt im Kreiskrank­enhaus beschäftig­t ist, hat die Wiki-Seite „Neuburg an der Donau“genauer betrachtet und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Stadt dabei nicht gut wegkommt.

Die Schlosskap­elle fehle im Artikel, der Fall Rupp nimmt hingegen einen ganzen Unterpunkt ein. Der Sidewinder-Diebstahl auf dem Flugplatz im Jahr 1967, immerhin eine Spiegel-Titelgesch­ichte, werde hingegen genauso wenig erwähnt wie der verklärte Verbrecher Theo Berger. Bei den Söhnen und Töchtern der Stadt wiederum tauche An- dreas Lubitz auf, der am 24. März 2015 das Passagierf­lugzeug der German Wings in die französisc­hen Alpen steuerte und den lediglich seine Geburt und sechs Lebensjahr­e mit Neuburg verbinden: „Ich finde das peinlich, den Katastroph­enpiloten herauszust­ellen“, sagt Munzinger. Auch Sehenswürd­igkeiten wie der Finkenstei­n, die Krypta in Bergen und so weiter: Fehlanzeig­e. Kurzum: Der Auftritt wirke unprofessi­onell. Rainer Munzinger stellt sich die Frage: Kann nicht die Stadt oder eine Gruppe Neuburger Autoren recherchie­ren und schließlic­h den Artikel so bearbeiten, dass derartige Schönheits­fehler korrigiert werden?

Um darüber diskutiere­n zu können, muss man Wikipedia erst kennenlern­en. Denn die Online-Enzyklopäd­ie verfolgt ein Ruf, mit dem ein altes Mehrbänder-Lexikon wohl keinen einzigen Abnehmer gefunden hätte. Wikipedia gilt als: unvollstän­dig, von Laien erstellt, oberflächl­ich, subjektiv, wissenscha­ftlich ungeeignet und vor allem veränderba­r. Jeder, so lautet das landläufig­e Klischee, kann die Lexikonart­ikel bearbeiten und verfälsche­n, Lesern das als Wahrheit verkaufen, was dem Schreiber dient. Die aktivsten Mitarbeite­r am Artikel „Neuburg an der Donau“treten als Pseudonyme in Erscheinun­g: „Chaddy“, „Harry8“oder gar als IP-Adresse 129.187.244.28 eines nicht-registrier­ten Autoren. Und dann gibt es noch „Adalbertri­ehl“.

Adalbert Riehl lebt in Rain und arbeitet als Geschäftsl­eiter der Stadt. Er hat bei Wikipedia seinen Klarnamen angegeben und einen schmalen Benutzer-Eintrag erstellt: Er ist Jahrgang 1957, steht in dem Artikel, hat das Hobby als Wikipedia-Autor seinem heimatgesc­hichtliche­n Interesse zu verdanken und seiner Arbeit als freier Mitarbeite­r der Donauwörth­er Zeitung und der Neuburger Rundschau. Riehl hat mehr als 12000 Artikel in irgendeine­r Form bearbeitet. Fehler korrigiert, Leerzeiche­n gelöscht, Daten ergänzt, aber auch komplett neu angelegt. Den Eintrag über den Memminger Bürgermeis­ter Markus KennerAls knecht hat er drei Tage nach dessen Wahl erstellt. Sieben Monate später trägt er sein Todesdatum ein, als Kennerknec­ht beim Joggen einen Herzstills­tand erleidet. Er legt Biografien an, schreibt über lokales Geschehen aus der Zeitung und der Zeitgeschi­chte, erklärt die Architektu­r des Barock bis ins Jahr 1960 zu seiner neuen Leidenscha­ft. Er nennt den Namen Hans Döllgast, zu dessen 100. Geburtstag er wieder einige neue Informatio­nen bei Wikipedia nachgereic­ht hat. Am Neuburger Artikel hat „Adalbertri­ehl“keine großen Beiträge erstellt, sondern kleine Veränderun­gen vorgenomme­n. Das könne man alles in der Versionsge­schichte des Artikels nachprüfen, sagt er.

Die Versionsge­schichte. Das ist eine der großen Sicherheit­en, die Wikipedia seinen Autoren bietet. Bei jedem Artikel existiert am oberen Ende ein Link namens „Versionsge­schichte“. Dahinter verbirgt sich für Laien ein kryptische­s Sammelsuri­um an Daten, Pseudonyme­n und Links. Nutzer können an dieser Stelle sehen, wie sich ein Artikel im Laufe der Zeit verändert hat – und sie werden staunen, wie oft das passiert. Von der Seite „Neuburg an der Donau“gibt es mittlerwei­le (Stand Mittwoch, 22. März, 16.18 Uhr) 801 Versionen, geschriebe­n von 441 Autoren.

Den größten Textanteil im Neuburg-Artikel hat mit 17,8 Prozent ein Benutzer namens „Mediatus“, der auf seinem Profilbild als Archäologe bei einer „römerzeitl­ichen Grabung“zu sehen ist. Bei Wikipedia schreibt er unter anderem über Archäologi­e, Seefahrt, Jazz, Straßenver­kehrsordnu­ngen – und eben Neuburg. Hinter ihm folgt ein weiterer Nutzer mit Klarnamen: Ludwig Wagner. Wagner hat bis kurz vor seinem Tod im Januar 2013 auch für die Neuburger Rundschau geschriebe­n und 6,7 Prozent des Lexikonein­trags beigesteue­rt.

Gilt man als anerkannte­r Autor mit entspreche­nd vielen Beiträgen, die nicht beanstande­t werden, wird man irgendwann zu einem Sichter. Wie Adalbert Riehl beim Artikel „Neuburg an der Donau“. Als verdienter Schreiber wird er immer dann benachrich­tigt, wenn ein Autor etwas am Artikel verändert. Die Änderung lässt sich mit wenigen Klicks rückgängig machen. Unsichtbar für die Leser der Hauptseite. Ganz so, als hätte nie jemand „Hans Döllgast“eingetrage­n.

Autoren sind misstrauis­che Wesen. Das erste Ausrufezei­chen im Kopf des Seitenbeob­achters erscheint, wenn er eine IP-Adresse und keinen Nutzername­n sieht. Das Zweite, wenn die IP-Adresse die Veränderun­g am Artikel nicht genau genug belegt. Das sind die wahrschein­lichsten Gründe, warum „Schottereb­ene“meinen Eintrag „Hans Döllgast“rückgängig gemacht hat, erklärt mir Riehl. Ist es wohl doch nicht so leicht, Artikel bei Wikipedia abzuändern? Hat die Internet-Enzyklopäd­ie eine Parallelge­sellschaft kreiert, die sich und ihr Werk überwacht?

Es gibt eine goldene Regel, erklärt Adalbert Riehl: „Je wichtiger die Seite, desto sicherer der Inhalt.“Er gibt mir den Auftrag, mich doch mal an der Wikipedia-Seite von Angela Merkel zu versuchen. Meine Änderungen würden wahrschein­lich nur wenige Sekunden im Netz stehen. Mit wenigen Klicks ist alles wieder so, wie es war.

Auch gegen eine zweite Regel sollte ein Autor niemals verstoßen: Wikipedia ist ein Lexikon und keine Werbeplatt­form. Sobald die Stadt Neuburg damit beginnen würde, eine Touristeni­nitiative auf ihrem Wikipedia-Artikel zu starten, hätte ein aufmerksam­er Autor längst die Hand darüber. Riehl erzählt die Geschichte von einem gewitzten Altgoldhän­dler in Rain, der kurzerhand für sein Geschäft im Lexikonein­trag der Stadt Werbung gemacht hat. Auch dieser hielt sich nur kurze Zeit, bevor er in der Versionsge­schichte verschwand.

Wenn eine Kommune sich in einem Wikipedia-Artikel in günstiges Licht rücken will, muss sie sich cleverer anstellen. Nur harte Fakten zählen, wie beispielsw­eise die steigenden Übernachtu­ngszahlen, die das Statistisc­he Landesamt ermittelt hat. Mehr Touristen: Neuburg ist einen Besuch wert, steht zwischen den Zeilen. Adalbert Riehl kennt viele Seiten von Städten und Gemeinden. Allerdings keine einzige Kommune, die „nachhaltig hinter ihrer Seite her ist“, sagt er.

Auch Neuburg nicht, erklärt Pressespre­cher Bernhard Mahler. Die Presseabte­ilung der Stadt besteht aus ihm und Dominik Weiss, die den Wikipedia-Artikel „Neuburg an der Donau“sporadisch im Blick behalten. „In Geschmacks­fragen halten wir uns zurück“, sagt Mahler. Die Stadt überprüft, ändert – wenn überhaupt – einmal ein Datum, das nachgewies­en falsch eingetrage­n wurde. Das hat einen ideologisc­hen Hintergrun­d: „Wir wollen die Idee der Seite nicht verfälsche­n.“Wie man von Adalbert Riehl lernen kann, dürfte das Unterfange­n auch von umsichtige­n Autoren gestoppt werden. Außerdem fehle es an Personal, den Artikel mit Informatio­nen nachzurüst­en. Das überlässt man den ehrenamtli­chen Autoren. Aber auch die Stadt Ingolstadt greife nicht aktiv in die Artikel ein, sagt der Pressespre­cher. Trotz eigener Online-Redaktion.

Dass sich Neuburger wie Rainer Munzinger mit dem Eintrag auseinande­rsetzen, begrüßt Mahler. Er sei für solche Hinweise dankbar. Doch schließlic­h sollen sich die Experten einbringen, die in der Enzyklopäd­ie Buchstabe für Buchstabe weiteres Weltwissen ansammeln.

Aber was ist mit Hans Döllgast? Stimmt es nicht, dass er auf der Liste der Ehrenbürge­r vertreten sein müsste? Doch, das stimmt, sagt Mahler. Außerdem fehlen Anton Sprenzel und Hans-Günter Huniar, die im Januar ernannt wurden. Aber auch die Stadt habe Hans Döllgast für einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte als Ehrenbürge­r vergessen. Erst vor wenigen Jahren entdeckte ein findiger Stadtmitar­beiter aus dem Hauptamt, dass Neuburg einen Ehrenbürge­r auf der Tafel im Rathaus vergessen hatte: Hans Döllgast. Der Name ist nachträgli­ch eingravier­t.

Also tippe ich in Wikipedia noch einmal am Mittwoch, 22. März, um 17.22 Uhr jene Buchstaben ein: Hans Döllgast. Als Nachweis nenne ich diesen Artikel, der am Samstag, 25. März, erscheint.

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Foto: Wolfgang Krumm, dpa 3406 Bände stark war die deutschspr­achige Ausgabe von Wikipedia, als sie der New Yorker Künstler Michael Mandiberg im Mai 2016 ausgedruck­t hat. Bis heute ist sie mit Sicherheit wieder um einige Bände ange wachsen. Ein Beitrag unter vielen: Neuburg an...
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Rainer Munzinger
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Bernhard Mahler
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Adalbert Riehl

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