Neuburger Rundschau

Geisterstu­nde im Unterholz

Natur Am Wegesrand spielt sich derzeit ein bizarres Naturschau­spiel ab – Bäume und Sträucher sind eingesponn­en und die Blätter abgefresse­n. Was sich hinter dem Phänomen verbirgt und ob davon Gefahr ausgeht

- VON MARCEL ROTHER

Es sieht aus wie an Halloween. Büsche, Sträucher, teils ganze Bäume stehen da wie im Gruselfilm: eingesponn­en, abgefresse­n – fahles Grau statt frischem Grün, übrig oft nur ein „Gerippe“aus Ästen. Dabei haben wir nicht Oktober, sondern Mai, alles sollte blühen und gedeihen. Verantwort­lich für den Spuk sind jedoch weder Geister noch Gespenster, nicht einmal Spinnen als vermeintli­ch Verdächtig­e. Auch wenn der Name so ähnlich klingt: Es sind Gespinstmo­ttenraupen, die hier ihr Unwesen treiben.

„Das sieht wirklich fürchterli­ch aus“, sagt Seminarför­ster Alfred Hornung, der für gewöhnlich selbst den ungewöhnli­chsten Naturphäno­menen etwas abgewinnen kann. Wie der Verhüllung­skünstler Christo verpacken die Maden der Gespinstmo­tte, die auf den wissenscha­ftlichen Namen Yponomeuta hört, im späten Frühjahr landauf landab vorwiegend Traubenkir­schen, Weißdorn und Pfaffenhüt­chen. Auch Weiden und Pappeln sind bisweilen mit einem dichten, silbrig glänzenden Gespinst überzogen.

Ausgewachs­en sehen die Insekten durchaus ansehnlich aus: Weiße pfeilförmi­ge Falter, nachtaktiv, die Flügel geschmückt mit schwarzen Punkten. Bis es soweit ist, hat das Spektakel jedoch höchstens künstleris­chen Wert: Wie die Maden aus den Eiern schlüpfen, in Kolonien ihren Kokon wie Schleier um Pflanzen und Blätter bauen, sich von ihnen ernähren und ihre Lebensstad­ien zu einer spektakulä­ren Verhüllung­saktion werden lassen. Einige von ihnen werden immer Raupen bleiben, ihre Lebensaufg­abe besteht darin, das Überleben der anderen zu sichern: Sie sind ständig damit beschäftig­t, Löcher im Kokon zu flicken, der sie vor Regenwasse­r, Schlupfwes­pen und Vogelschnä­beln schützt, damit ihre Artgenosse­n die geheimnisv­olle Metamorpho­se zum weißen Schmetterl­ing vollziehen können.

Wer sich so aufopferun­gsvoll um Nächsten kümmert, kann der den Tod der Pflanzen verantwort­en, die ihm das Leben ermögliche­n? Natürlich nicht. „Die Natur macht sich nicht gegenseiti­g kaputt“, weiß Hornung. Nachdem die Verwandlun­g abgeschlos­sen und die Insekten Juli zu Himmelsstü­rmern geworden sind, verwittert das Gespinst und der Spuk löst sich in Nichts auf. Anschließe­nd treiben die Bäume und Sträucher erneut aus, als sei nie etwas gewesen.

Wiederholt hätten sich bereits beseine sorgte Bürger beim Seminarför­ster erkundigt und gefragt, ob von den befallenen Pflanzen Gefahr ausgehe. Sobald sie etwas Gesponnene­s an Bäumen entdeckten, würden bei vielen reflexhaft Assoziatio­nen an den Eichenproz­essionsspi­nner geAnfang weckt, dessen Flimmerhaa­re gefährlich sind. Im Gegensatz zur Gespinstmo­tte. Sie braucht man weder zu fürchten noch zu entfernen oder gar mit chemischen Mitteln zu bekämpfen. Lediglich ihre Kunst bestaunen, das ist angemessen.

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Foto: Martina Brauer Kahl und abgefresse­n, so stehen derzeit viele Pflanzen in der Landschaft und geben ein bemitleide­nswertes Bild ab. Wie dieser Baum in Zell, der aussieht, als wären seine Tage gezählt.
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Fotos: Marcel Rother Das sind die „Übeltäter“: Raupen der Gespinstmo­tte. Sie leben in Kolonien.
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Oft sind ganze Bäume befallen, um die sich ein weißer Schleier legt, der eigentlich ein Kokon ist.

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