Was von Helmut Kohl für immer bleiben wird
Leitartikel Das Vermächtnis des großen, würdevoll verabschiedeten Bundeskanzlers verpflichtet zur Bewahrung der Einheit Europas. Dazu braucht die EU einen Neuanfang
Dem großen europäischen Staatsmann und Patrioten Helmut Kohl, der seinen Platz im Pantheon der bedeutendsten Politiker des Kontinents finden wird, ist ein würdevoller, bewegender Abschied bereitet worden. Zwar wäre ein – am Einspruch der Witwe gescheiterter – nationaler Staatsakt in Berlin ein noch besserer Rahmen für dieses letzte Geleit gewesen. Doch die Sorge Walter Kohls, seinem Vater werde die angemessene Würdigung seines Lebenswerks verweigert, erwies sich als unbegründet. In Straßburg haben Staatsmänner aus aller Welt dem „Ehrenbürger“Europas die Ehre erwiesen und seine Verdienste um die deutsche Einheit und die Einigung Europas beschrieben – in einer Feier, die zugleich Symbolkraft für jenes vereinte Europa entfaltete, das Kohl zeitlebens am Herzen lag und dessen Fortexistenz heute gefährdet ist. Die kleinlichen und peinlichen Reibereien um die Gästeliste und das öffentliche Trauerspiel um die tragische Kohl’sche Familienfehde werden bald vergessen sein. Was für immer bleibt, ist die Erinnerung an einen Kanzler, der Weltgeschichte gemacht und den Kairos, den günstigen Moment, zum Wohle seines Vaterlandes genutzt und Deutschland fest in der Mitte Europas und im Westen verankert hat.
Über den Euro, mit dem Kohl die Einigung Europas „unumkehrbar“machen wollte, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Kohls Leistungen als Kanzler der Einheit und Motor der EU sind über jeden Zweifel erhaben. Ohne ihn, und darin liegt seine historische Größe, wäre die Geschichte womöglich ganz anders verlaufen und die Überwindung der Teilung Europas nicht zum Glücksfall für die Deutschen geworden. Und wenn einer den Friedensnobelpreis verdient gehabt hätte, dann dieser standhafte Mann, der es geschafft hat, den Europäern die Angst vor einem stärker gewordenen Deutschland zu nehmen. Dagegen verblasst, was sich gegen den Machtpolitiker Kohl sagen lässt: seine Trennung der Parteienwelt in Freund und Feind, seine – bis ins hohe Alter hinein – Unerbittlichkeit gegen „Verräter“, seine Missachtung des Gesetzes in der Spendenaffäre. Es werden eines Tages nur Fußnoten der Geschichte sein. Was wirklich zählt, ist Kohls leidenschaftlicher, von Erfolg gekrönter Einsatz für ein Europa in Frieden und Freiheit.
Am Sarge Kohls ist dessen Vermächtnis, die Bewahrung der Einheit Europas, beschworen worden. Von der Krise Europas und dem, was nun zu tun ist, war kaum die Rede. Nur in der Ankündigung des Präsidenten Macron, er wolle Europa „gemeinsam mit Angela Merkel voranbringen“und Kohls großem Werk „wieder Sinn geben“, kam die Entschlossenheit zu einem Neuanfang zur Sprache. Die Frage ist nur, wie dieser Neuanfang aussehen soll. Macrons Therapie läuft auf „mehr Europa“und jene engere Union hinaus, wie sie auch Kohl vorschwebte. Merkel will, dass die nationalen Parlamente beim Umverteilen von Geld das letzte Wort behalten und Brüssel nicht noch mehr Macht erhält. Beide Seiten führen Kohl als Kronzeugen ins Feld; die SPD bringt den Toten gegen Merkels „belehrende Pedanterie und Krämerei“(Gabriel) in Stellung. Wer weiß schon, wie Kohl gehandelt hätte – die Lage der EU (28 Mitglieder, jede Menge innerer und äußerer Krisen, Brexit) ist ungleich verzwickter als zu seiner Zeit. Was wir wissen, ist: Das Erbe Kohls verpflichtet dazu, die EU zusammenzuhalten und die Bürger stets aufs Neue für die große Idee zu begeistern. Dazu bedarf es eines Reformschubs, der das Machbare im Blick hat. Wir brauchen keinen europäischen Superstaat, sondern eine EU, die all jene Probleme anpackt, die wirklich nur gemeinsam zu lösen sind.
Er hätte den Friedensnobelpreis verdient gehabt