Wie, du kennst den Meyerhoff nicht?
Der Burgschauspieler ist mit seinem autobiografischen Romanzyklus zum Kultautor geworden. Jetzt liegt der vierte Band vor. Herrschaftszeiten, was liest sich der schon wieder gut!
Nach drei Bänden, alle drei in den Bestsellerlisten, braucht es keine lange Vorrede mehr. So also geht es weiter mit Jungschauspieler Joachim Meyerhoff, nach den zuletzt geschilderten alkoholgeschwängerten Tagen in der Münchner Villa der Großeltern und den Torturen an der Otto-Falckenberg-Schule... Er erhält einen Vertrag am Stadttheater Bielefeld, klebt Wohnungsgesuche an Stromkästen und Laternen, läuft abends eine erste Kontrollrunde, entdeckt nur unversehrte Blätter, kein einziger Abschnitt mit Telefonnummer abgerissen, ein Blatt aber immerhin mit Kommentar. Unter der Zeile „Junger Schauspieler sucht ab sofort: kleine, helle, ruhige Wohnung …“steht die Anmerkung „... zum Sterben“. Erste Seite, vierter Band, und zack, schon hat er einen wieder!
„Die Zweisamkeit der Einzelgänger“heißt der Band, mit dem der Schauspieler und Schriftsteller nun seinen autobiografischen Romanzyklus „Alle Toten fliegen hoch“weiterführt – eventuell auch beendet. Band eins bis drei entstanden als Projekt für das Wiener Burgtheater – Meyerhoff spielt Meyerhoff – und erzählen von Kindertagen auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik in Schleswig-Holstein, deren Direktor der Vater war, von seinem Austauschjahr als Jugendlicher in Amerika, in dessen Zeit der Unfalltod eines seiner älteren Brüder fällt, von eben jener Münchner Zeit an der Schauspielschule und im rosafarbenen Zimmer bei den exzentrischen Großeltern. Ist wieder einmal etwas viel getrunken worden, nutzt auch der Enkel den Treppenlift in den ersten Stock. Über 1000 Seiten insgesamt, irrsinnig komisch, durchtränkt mit Selbstironie. Der Grundton seines Mammutprojekts aber ist ein ganz anderer: Meyer- geboren 1967, der Familienmensch, trauert und sehnt sich nach seinem verstorbenen Vater, Bruder, den Großeltern, und übers Erzählen kommt er diesen seinen Toten noch einmal berührend nahe. Meyerhoff lesen, das ist daher ein wenig wie Chaplin schauen: immer auch mit Wehmut in der Brust.
In Band vier nun: die erste große Liebe, die zweite, eine kleine dritte, irgendwann alle gleichzeitig. Und keine weiß von der anderen. Die Studentin Hanna – „zu große Zähne, zu große Augen, zu platte Nase, verdammt kurze Haare. Sie gefiel mir sofort“– ist erst nicht zu fassen, dann zieht sie zu ihm in die Bude nach Bielefeld. Ein geniales, aber durch und durch kompliziertes Wesen, das dem Jungschauspieler seine riesigen Wissenslücken in der Weltliteratur vor Augen führt: „Wie, du kennst den ,Törless‘ nicht? Wie, du kennst den ,Zauberberg‘ nicht?“Im besten Fall kennt er zumindest ein Werk des Autors, kann dann erwidern: „Bin gespannt, ob der ,Zauberberg‘ so gut wie ,Felix Krull‘ ist.“Die zweite Liebe ist die Tänzerin Franka, vinylschwarzes Haar, Vorliebe für bunte Boas, nach gemeinsamen wilden Nächten erwacht er verschwitzt und gefedert. Sie trifft er in Dortmund, der nächsten Station in seinem Schauspielerleben. Und dort dann auch die üppige Bäckersfrau Ilse, der er schließlich allmorgendlich in der Backstube hilft, Brote backt, zur Schlagermusik tanzt, eingemehlt wird in Zuneigung, vor dem Nachhausegehen sich an Puddingbrezeln labt.
Weil das Hin- und Herfahren zwischen Dortmund und Bielefeld, das Hin- und Herpendeln zwischen den Lieben, das Vertuschen, Verheimlichen, all der Sex und dann auch noch die Arbeit auf der Bühne ihn an den Rande seiner Kraft bringen, wird er zum Hallo-WachSüchtigen. Ein einziger Liebes- und endlich, endlich aber richtiges, sattes Leben für den braven Jungen! Endlich erwacht!
Die Katastrophe ist unabwendbar, selten sieht man einen Helden mit einer solchen Verve darauf zu schlittern. Hinzu kommen grandios geschilderte Desaster auf der Bühne: Am Dortmunder Theater debütiert er in einem Musical – darf jehoff, doch nicht singen, nur sprechen. Das Publikum feiert ihn dennoch. Seine selbst-konzipierte Solo-Performance als Ratte muss dann aber doch vorzeitig abgesetzt werden.
Meyerhoff ist ein Meister der treffend-knappen Personenbeschreibung, notiert beispielsweise über einen Schauspielkollegen: „Er war klapperdürr und hatte die KörKoffeinrausch, perspannung einer ins Wasser gefallenen Salzstange.“Niemanden entlarvt er in all seinen Schwächen aber so begeistert wie sich selbst: „Ich wäre so gerne ein souveräner Casanova mit Cognacschwenker im Cabrio gewesen, der entspannt, eine Hand am Steuer, durch seine Lügen kurvt, mutierte aber zunehmend zum windigen Kleinkriminellen im Kleinlaster voller Unwahrheiten, der sich ständig beobachtet fühlt und hektisch den Handschweiß an der fleckigen Hose abwischt.“
Alles nur Erinnerung? Oder doch Fiktion? Natürlich drängt sich der Vergleich zum Norweger Karl Ove Knausgard auf, der mit seiner sechsbändigen Reihe über das eigene Leben zum Weltstar geworden ist. Und der trifft wohl auch zu, wenn es ums serielle Erzählen der eigenen Biographie und der damit verbundenen Selbstvergewisserung geht. Wo Knausgard aber selbstversessen in seiner Erinnerung nach jedem Detail sucht, pickt sich Meyerhoff nur das Wesentliche heraus und dichtet charmant dazu, sucht nach der Pointe.
Kein Knausgard also, sondern Meyerhoff, Unterhalter mit Tiefgang, komisch selbst im Kummer. Und längst ja selbst Kult. Auch auf der Bühne. Im vergangenen Jahr wurde er für sein Solostück „Die Welt im Rücken“nach dem Roman von Thomas Melle zum zweiten Mal als Schauspieler des Jahres ausgezeichnet. Der vierte Band landete sofort wieder auf der Bestsellerliste. Herrschaftszeiten! Was liest sich das alles aber auch wieder gut ...