Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (79)
Das Merkwürdige war – und darin stimmte Tommy mir zu, als wir später darüber sprachen –, dass uns Madame, die uns in Hailsham immer nur als feindselige Fremde von draußen erschienen war, jetzt, da wir sie wieder trafen, auf einmal wie eine Vertraute vorkam, wie jemand, der uns viel näher stand als jeder andere, den wir während der letzten Jahre kennen gelernt hatten – obwohl sie nichts gesagt oder getan hatte, das auch nur einen Anflug von Herzlichkeit verriet. Deshalb löste sich plötzlich alles in Luft auf, was ich mir vorher ausgedacht hatte, und ich redete einfach und aufrichtig mit ihr, so wie ich Jahre früher mit einer Aufseherin geredet hätte. Ich sagte, was wir gehört hatten, berichtete von den Gerüchten über Hailsham-Kollegiaten und Zurückstellungen und fügte hinzu, wir seien uns bewusst, dass die Gerüchte womöglich falsch seien, und bauten auf gar nichts.
„Falls es doch stimmen sollte“, sagte ich, „ist uns schon klar, dass
Sie es allmählich leid sein werden, wenn ständig Paare zu Ihnen kommen und behaupten, sie liebten einander. Tommy und ich, wir hätten Sie auch niemals behelligt, wenn wir uns nicht wirklich sicher wären.“
„Sicher?“Es war ihr erstes Wort seit einer Ewigkeit, und vor Überraschung schreckten wir beide ein bisschen zurück. „Sie behaupten, Sie seien sicher? Sicher, dass Sie einander lieben? Woher wollen Sie das wissen? Meinen Sie, Liebe sei so einfach? Sie lieben einander also. Innig. Ist es das, was Sie mir sagen wollen?“
Ihr Tonfall klang beinahe sarkastisch, aber dann sah ich, fast mit Erschrecken, dass sie Tränen in den Augen hatte, während ihr Blick zwischen uns hin und her wanderte.
„Das glauben Sie? Dass Sie einander innig lieben? Und deshalb kommen Sie zu mir wegen dieser… dieser Zurückstellung? Oder warum sind Sie zu mir gekommen?“
Hätte sie diese Frage mit dem Unterton gestellt, dass unsere Idee völlig hirnrissig sei, so wäre ich am Boden zerstört gewesen. Aber so klang es nicht; eher so, als wäre es eine Testfrage, auf die sie die Antwort ohnehin wusste, ja, als hätte sie dieselbe Prozedur schon viele Male mit anderen Paaren durchlaufen. Das hielt meine Hoffnung aufrecht. Aber Tommy muss nervös geworden sein, denn er platzte auf einmal heraus:
„Wegen Ihrer Galerie sind wir zu Ihnen gekommen. Wir glauben zu wissen, wofür Ihre Galerie da ist.“
„Meine Galerie?“Sie lehnte sich gegen das Fensterbrett, so dass sich die Vorhänge hinter ihr spannten, und holte tief Luft. „Meine Galerie. Sie meinen gewiss meine Sammlung. Die vielen Bilder und Gedichte, all die Sachen von Ihnen, die ich im Lauf der Jahre zusammengetragen habe. Es war harte Arbeit für mich, aber ich habe daran geglaubt, das taten wir alle damals. Sie meinen also zu wissen, welchem Zweck sie diente, warum wir das taten. Nun, das würde mich brennend interessieren. Denn ich muss Ihnen gestehen, das ist eine Frage, die ich mir selbst die ganze Zeit stelle.“Ihr Blick wechselte plötzlich von Tommy zu mir. „Gehe ich zu weit?“, fragte sie.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, und sagte nur: „Nein, nein.“
„Doch“, antwortete sie. „Es tut mir Leid. Bei diesem Thema gehe ich häufig zu weit. Streichen Sie, was ich gesagt habe. Junger Mann, Sie wollten mir etwas über meine Galerie erzählen. Bitte, lassen Sie hören.“
„Sie brauchen sie als Entscheidungshilfe“, sagte Tommy. „Um Anhaltspunkte zu haben. Wie sollten Sie sonst überprüfen, ob es stimmt, wenn Kollegiaten zu Ihnen kommen und sagen, sie seien verliebt?“
Madames Blick war wieder zu mir gewandert, aber ich hatte das Gefühl, sie starrte auf eine Stelle an meinem Arm, und so blickte ich unwillkürlich hinunter, um zu sehen, ob ich womöglich Vogelkot auf dem Ärmel hatte. Dann hörte ich sie sagen:
„Und deshalb, meinen Sie, hätte ich alle diese Sachen von Ihnen gesammelt. Meine Galerie, wie Sie alle sie immer genannt haben. Ja, mit der Zeit habe ich sie in Gedanken selbst so genannt: meine Galerie. Aber warum, junger Mann? Erklären Sie mir das. Weshalb sollte ich anhand meiner Galerie entscheiden können, wer von Ihnen wirklich verliebt ist?“
„Weil Sie daran erkennen, wie wir waren“, sagte Tommy. „Weil…“
„Natürlich“, fiel ihm Madame plötzlich ins Wort, „weil Ihre Kunst Ihr wahres Ich enthüllt! Das ist es, ja? Weil Ihre Kunst Ihre Seelen offenbart!“Wieder wandte sie sich an mich und fragte noch einmal: „Gehe ich zu weit?“Genau wie zuvor. Und wieder hatte ich den Eindruck, dass sie auf einen Fleck an meinem Ärmel starrte. Aber jetzt hatte ein leiser Verdacht zu wachsen begonnen, der schon bei ihrer ersten Frage, ob sie zu weit gehe, in mir gekeimt war, und ich musterte Madame aufmerksam, aber sie schien meinen prüfenden Blick zu spüren und wandte sich wieder an Tommy.
„In Ordnung“, sagte sie, „weiter. Was wollten Sie mir sagen?“
„Das Problem ist“, sagte Tommy, „dass ich damals ein bisschen durcheinander war.“
„Sie sagten etwas über Kunstwerke. Dass ein Kunstwerk die Seele des Künstlers offenbart.“
„Was ich eigentlich sagen will“, beharrte Tommy, „ist, dass ich damals so durcheinander war, dass ich mich überhaupt nicht darum gekümmert habe. Ich habe gar nichts geschaffen. Heute weiß ich, dass es ein Fehler war, aber ich war eben so verwirrt. Deshalb haben Sie nichts von mir in Ihrer Galerie. Daran bin ich selber schuld, ich weiß, und ich weiß auch, dass es jetzt wahrscheinlich zu spät ist, aber ich habe Ihnen ein paar Sachen mitgebracht.“Er hob seine Tasche, dann zog er den Reißverschluss auf. „Manche Zeichnungen sind erst in letzter Zeit entstanden, andere sind schon viel älter. Von Kath müssten Sie schon einige Sachen haben. Sie haben viel von ihr mitgenommen, für die Galerie. Stimmt doch, Kath?“
Einen Moment lang sahen beide mich an. Dann sagte Madame, beinahe unhörbar:
„Ihr armen Geschöpfe. Was haben wir euch angetan? Mit all unseren Plänen und Manipulationen?“Das ließ sie im Raum stehen, und abermals meinte ich Tränen in ihren Augen zu sehen. Schließlich wandte sie sich wieder an mich: „Sollen wir dieses Gespräch fortsetzen? Wollen wir weitermachen?“
Jetzt erhärtete sich mein Verdacht zur Gewissheit. Gehe ich zu weit? Und jetzt: Wollen wir weitermachen? Mit einem kleinen Erschaudern begriff ich, dass diese Fragen nicht an mich oder an Tommy gerichtet waren, sondern an jemand anderen – an jemanden, der hinter uns in der abgedunkelten zweiten Zimmerhälfte saß und zuhörte. Ich drehte mich langsam um und spähte in die Dunkelheit. Ich sah nichts, aber ich hörte ein Geräusch, mechanisch, überraschend fern – das Haus schien viel weiter in die Dunkelheit hineinzureichen, als ich mir vorgestellt hatte. »80. Fortsetzung folgt