Adalbert Stifter: Prokopus (9)
Unten, im Gasthof Fichtau, ist die Welt der Wirtsfamilie in bester Ordnung – und seit Generationen gepflegt. Aber oben, auf der Burg Rothenstein, wo das sehr junge adlige Paar Prokopus und Gertraud Einzug halten, setzt trotz Kinder segen eine Entfremdung
Nun müssen wir von der stillen Fichtau, in der wir uns vielleicht aus unentschuldigbarer Vorliebe für so unbedeutendes Wirken und Tun zu lange aufgehalten haben, Abschied nehmen und dem Zuge, der am Morgen in ihr das glänzende Frühmal eingenommen hatte, folgen, um zu berichten, was ihm im Laufe dieses Tages begegnet ist und wie denn die nämliche Nacht, die jetzt über der Fichtau steht, auch über die Häupter jener fröhlichen Menschen heraufzog.
Sie ritten in heiterer Lust, da noch die helle Sonne auf sie schien, ihres Weges dahin, und die Perniz ging rauschend und plaudernd mit ihnen. Beide, der Weg und der Fluß, strebten aus dem engen Tale hinaus gegen die ebneren Länder, wo der Weg in eine breite Straße auseinandergeht, auf der der Zug aus seinem dünnen Faden sich zu einer sprechenden und scherzenden Gruppe hätte aufrollen können, und wo der Fluß, ohne mit seinen Wellen über Steine zu springen, in einer glänzenden Schlange
auf weiten Wiesen dahin liegt. Der erste Gruß, den das erweiterte Land dem Wanderer entgegenträgt, ist der freundliche, spitze Kirchturm von Prigliz, und dann folgen Meierhöfe und verschiedene Werke. Allein, ehe man noch dahin gelangte, schwenkte die ganze Gesellschaft von dem Wege ab, trabte über ein Brücklein der Perniz und verließ dieses lustige, hüpfende Wasser. Sie ritten in ein Seitental hinein, das so spitz abfällt, als wollten sie wieder in die Berge der verlassenen Fichtau zurückkehren. So war es auch beinahe. Sie ritten bei immer höher steigender Sonne, bei mutwilligem Hundegebell, bei manch schwierigem Gespräche und bei manchem Wirrsale und Streite der Diener, die sich hinten drängten, in dem Seitentale dahin, gleichsam um ein vielgestaltig emporragendes Hügelland eine Kreislinie spannend. Die roten Steine der Fichtau blickten überall nieder, und die Wasser schossen herab. Einmal, da die Höhen auseinanderrissen, zeigte Prokopus seiner Gemahlin den Berg, wohin er sie führte, wie er, im Dufte des wolkenlosen Vormittags schwimmend, gleichsam weit hinter allen Höhen draußen zu schweben schien.
Sie ritten weiter und weiter. Als die Sonne schon ziemlich bedeutend jenseits ihres Gipfelpunktes am Himmel hinabrollte, als die Blitze des Morgens schon längst von den Berghöhen verschwunden waren und als diese bereits in einem müden trockenen Nachmittagshauche standen: erreichte man den Fuß des Berges. Hier ist ein Dörflein, und außer den einzelnen Menschen, die schon in dem Seitentale gestanden waren und die Gesellschaft angeschaut hatten, waren hier zuerst mehrere derselben versammelt. Sie standen aus Neugierde da oder riefen Glückwünsche zu. Von dem Schlosse waren Pferde herabgebracht worden, die warteten. Man bestieg sie, während die Diener die alten in Empfang nahmen und herumführten. Mit diesen frischen Kräften zog man die Höhe des Weges hinauf. Aus den Obstbäumen des Dörfleins bog man anfangs durch ansteigende Felder hinauf und kam dann auf die Einsamkeit des Berges. Eine vielfach unterbrochene Rasendecke streckte sich hinan, Steine schauten überall aus ihr heraus. Zwischen diesem hindurch ging der Weg, er war breit, und zu seinen beiden Seiten stand eine Doppelreihe uralter Fichten, welche mit den traurigen, tief niedergehenden Zweigen und mit den langen hängenden Moosbärten eine Gattung düsterer, einödeartiger Allee bildeten. Zwischen den runzligen, harzigen Stämmen stand hie und da ein Mensch, sein Angesicht hervorzeigend und die Vorüberreitenden betrachtend. Weiter gegen oben sah man mehrere den Reitern schleunigst vorauseilen, um bei dem Einzuge gegenwärtig sein zu können.
Den Grafen Prokopus an der Spitze und zu seiner Rechten die junge schöne Gemahlin kam man an dem Tore des Rothensteines an. Zu beiden Seiten von unendlichem Haselgebüsche bewachsen, zeigte die Ringmauer des Berges nur eine einzige offene Stelle, in der der steinerne Torbogen war. Sein düsteres Eisengrau war außer dem Wappen schier nirgends zu sehen, weil er von einer Last von Blumengewinden bedeckt war, die nur an einer Stelle durch ihre Schwere niedergebrochen hingen, den Stein zeigend und gleichsam gebrochenes Glück bedeutend. Die Torflügel waren in weiter Gastlichkeit geöffnet. Auf einem Gerüste hinter dem Blumenberge versteckt, war eine schmetternde Fanfare, die den Zug begrüßte und im Augenblicke von dem Donner des Geschützes abgelöst wurde, das auf dem Berge aufgepflanzt war und erdröhnte, als der Zug durch die Torflügel einritt. Eine fast wogende Menschenmenge war hier versammelt: sie riefen teils Lebehoch, teils winkten sie mit Tüchern und Hüten. Es war schier ein sturmähnliches Brausen, wie wenn sie eher Unheil als Glück verkündeten. Innerhalb des Tores, auf dem weiten, sandigen Platze, wo ein Obeliskus steht und zwei Sphinxe ruhen, waren jene Leute des Grafen aufgestellt, die in den verschiedenen Besitzungen desselben etwas galten: Richter, Schreiber, Schöffen, Verwalter, Geschworne und dergleichen. Sie standen mit sehr ernsten Gesichtern. Aber wie ein holder, versöhnender Gegensatz löste sie eine Schar weißer Mädchen ab, welche Kränze auf Kissen trugen und feine Papiere darreichten, auf denen Sprüche und Wünsche standen. Der junge schöne Graf hörte freundlich an, was der Mann, der an der Spitze der Mädchen stand, sagte – auch sonst war er zuvorkommend und höflich, er hielt den Hut ober dem Haupte gelüftet immer in der Hand und grüßte nach dieser Seite und nach jener. Auch die neue Gebieterin neben ihm, an der eigentlich alle Blicke hingen, hatte mit Neigen und Grüßen und herablassendem Winken vollauf zu tun.
Man ritt von dem Platze des Obeliskus auf dem sanftgewundenen Pfade über den ferneren Teil des Berges gegen die Schloßgebäude hinan. Eine nachdrückende Menschenmenge beschloß den Zug – ja auch seitwärts, wo sich liebliche Weinreben um das Rot der Marmorgesteine schlangen, suchten sich viele durchzufristen und zertraten manch zartes und nützliches Reis.
Nach einer Weile Reitens trat den Ankommenden ein schöner großer Bau entgegen. Er schwamm im zarten Lichte des späten Nachmittages und war rückwärts gehoben von einem schönen Eichenwalde, der sein Glanzgrün dem Auge entgegenhielt und auf dessen Rasen, der tiefgrün durch die Stämme vorblickte, Damhirsche gingen, die trotz der Menschenmenge, oder vielleicht gerade durch sie gelockt, neugierig an den Rand kamen und herausschauten. Der Bau hieß der Altbau und war das Ziel der Reise. Er bekam in folgender Zeit aus Ursachen, die wir später anführen werden, den Namen Julianbau. Man hatte im Heraufreiten zwar verschiedene Bauten und Häuschen in dem Weingelände zerstreut gesehen – sie waren auch zuzeiten bewohnt gewesen –, aber der Graf hatte zu seiner Wohnung den weitläufigen Altbau erwählt, wie auch seine Vorfahren aus den Bauwerken des Berges sich immer dasjenige zum Aufenthalte bestimmt hatten, das ihnen am meisten gefiel.