Wie konnte das passieren?
Unfall Ein Personenzug fährt in Aichach in einen stehenden Güterzug, zwei Menschen sterben. Die Ermittler schließen ein technisches Problem aus, der Fahrdienstleiter soll verantwortlich sein. Das Unglück weckt Erinnerungen an eine andere Katastrophe
Aichach Am Morgen danach ist es ruhig. Im Aichacher Bahnhofscafé ist viel weniger los als sonst. Stiller sind auch die Menschen, sagt eine Verkäuferin. Am Bahnhofsvorplatz sammelt sich eine 10. Klasse der Aichacher Realschule. Eigentlich will sie die Netzleitstelle der Lechwerke in Augsburg besuchen. Vermutlich wird das nichts mehr. Die Verzögerung ist schon zu groß. Ärger? Lehrerin Angelika Lechner verneint. Sie und ihre Schüler wissen ja, warum die Zugstrecke gesperrt ist. In nur 700 Metern Entfernung ist am Vorabend ein Triebwagen in einen stehenden Güterzug geprallt. Zwei Menschen haben ihr Leben verloren – der 37 Jahre alte Lokführer des Personenzuges und eine 73 Jahre alte Frau, die in Aichach aussteigen wollte und deshalb schon an der Tür stand. 14 Fahrgäste sind verletzt, zwei davon schwer.
Es ist der eindringliche Klang einer Dauerhupe, die einen Anwohner im Aichacher Ortsteil Algertshausen gegen 21.15 Uhr aufschreckt. Er gießt gerade seinen Garten, als die Hupe ertönt. Und schaut hinüber zur Bahnlinie. Dann gibt es den enormen Knall. „Als ob ein Haus eingestürzt ist“, schildert der Mann. Er sieht, wie der Zug die Güterlok nach dem Aufprall einige Meter weiter zurückschiebt.
In den Stunden, die nun folgen, erlebt die altbayerische Kleinstadt Aichach ein Hilfsaufgebot, wie sie es noch nicht gesehen hat. 240 Einsatzkräfte aus Aichach, Friedberg und Augsburg rücken an. Eine erste Meldung lässt Schlimmstes befürchten: „Zugunglück mit Toten und Verletzten“. Landrat Klaus Metzger beruft die Führungsgruppe Katastrophenschutz ein.
Inzwischen sind längst Anwohner an den Unglücksort geeilt. Einer der Ersten ist Oliver Furlic, der nahe des Bahndamms in Algertshausen wohnt. Der Knall hat ihn beim Fernsehen aufgeschreckt. „Ich habe sofort geschaut, was da los ist. Zuerst habe ich gar nicht recht erkannt, was passiert ist“, schildert er. Auch die Nachbarn kommen aus den Häusern. Furlic springt über den Bahngraben und versucht die Tür im ersten Waggon zu öffnen. Sie klemmt. Am zweiten Wagen schafft er es. Drinnen riecht es nach Diesel. „Ich bin nach vorn in den ersten Waggon gegangen. Da lag ein Verletzter am Boden. Überall waren Blut und Glassplitter“, erzählt Oliver Furlic.
Für die Helfer gibt es am nächsten Tag viel Lob. Das Bayerische Rote Kreuz (BRK), das selbst mit etwa 80 Rettern im Einsatz war, berichtet von einer Gruppe junger Burschen, die im Zug gesessen waren. Sie haben vorbildlich Erste Hilfe geleistet, sagt Rettungsdienstleiter Thomas Winter vom Kreisverband Aichach-Friedberg. Drei Minuten nach der Alarmierung sei der erste Rettungswagen vor Ort gewesen und von einem der jungen Männer zum Zug gelotst worden. Dort waren zwei weitere Burschen dabei, eine Frau wiederzubeleben, andere machten mit ihren Handys Licht. Die 73-jährige Frau, der sie helfen wollten, ist eines der beiden Todesopfer. „Sie war leider so schwer verletzt, dass sie es nicht geschafft hat“, sagt Winter.
Das Verhalten der jungen Männer, die sich auch um die übrigen Fahrgäste in dem Zug gekümmert haben, hat die BRK-Helfer aber so beeindruckt, dass sie sie bitten, sich zu melden (Telefon 0821/260760).
Der Montag, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, ist ein schwarzer Tag für den Schienenverkehr in Bayern. Am Tag danach, als sich der Schock langsam legt, stellt sich vor allem die Frage nach dem Warum. Die Frage, wie es passieren konnte, dass der Zug der Bayerischen Regionalbahn (BRB) in einen stehenden Güterzug prallt – wenige Meter vor dem Aichacher Bahnhof. Oder warum wenige Stunden zuvor ein Regionalzug an einem unbeschrankten Bahnübergang ein Auto erfasst – in Seeshaupt am Starnberger See. Der Zug schleifte den Wagen mehrere hundert Meter mit, Fahrer und Beifahrer kamen ums Leben.
Und es ist ein Tag, der zwangsläufig Erinnerungen weckt. Etwa an den 22. Juni 2001, als in der Oberpfalz ein Regionalzug in einen Lastwagen der US-Armee rast, der Lokführer, der Lkw-Fahrer und ein Passagier sterben. Elf Stunden später rammt ein Regionalzug auf der Strecke Donauwörth–Dillingen in Tapfheim ein Auto, in dem ein Ehepaar mit seinen beiden Kindern sitzt. Alle vier sterben. Oder die Tragödie vom 9. Februar 1971, als ein Trans-Europ-Express am Rand von Aitrang im Ostallgäu entgleist und kurz danach ein Schienenbus in die Trümmer kracht. 18 Menschen kommen damals ums Leben.
Und unweigerlich tauchen an diesem Tag die Bilder von Bad Aibling auf. Schon, weil die Parallelen zum Aichacher Unglück offensichtlich sind. Wieder stoßen, wie an jenem 9. Februar 2016, an dem zwölf Menschen umgekommen sind, zwei Züge zusammen. Wieder handelt es sich um eine eingleisige Strecke. Und wieder könnte der zuständige Fahrdienstleiter die Kollision verursacht haben.
Noch am Montagabend nimmt die Polizei den 24 Jahre alten Mitarbeiter der Deutschen Bahn vorläufig fest, es geht unter anderem um den Verdacht der fahrlässigen Tötung. Einen technischen Defekt schließen die Ermittler aus, vielmehr führen sie den Unfall auf menschliches Versagen zurück. Ob der Fahrdienstleiter wie sein Kollege in Bad Aibling auf seinem Handy gespielt hat? Ob auch er die Signale falsch gestellt hat? All das sind am Dienstag nicht mehr als Mutmaßungen. Am Nachmittag erlässt der Ermittlungsrichter in Augsburg Haftbefehl gegen den Mann, er kommt aber unter Auflagen wieder auf freien Fuß.
Was genau am Montagabend um 21.15 Uhr passiert ist, soll nun ein externer Gutachter klären, der am Dienstag vor Ort nach Spuren sucht. Er muss grundsätzliche Fragen klären: Warum fuhr die Regionalbahn BRB86696 von Augsburg nach Ingolstadt geradeaus auf Gleis 2 in den Bahnhof ein – wo sie laut Fahrplan doch auf Gleis 1 halten sollte? Warum stand der Güterzug 98907, der Holzstämme zum Sägewerk nach Unterbernbach bei Kühbach transportiert hatte, auf demselben Gleis? Hat der Fahrdienstleiter den Güterzug vergessen? Oder hat er vielmehr aus Versehen die Weiche für den Regionalzug mit etwa 30 Menschen an Bord nicht gestellt?
Winfried Karg fährt jeden Tag vom Aichacher Bahnhof nach Augsburg, jeden Tag mit der BRB, die auf der eingleisigen Strecke verkehrt. Karg, zugleich Sprecher des Fahrgastverbands Pro Bahn, kennt den Aichacher Bahnhof – und die Technik vor Ort. Der Fahrdienstleiter dort arbeitet mit einem „mechanischen Einheitsstellwerk“aus dem Jahr 1949, erklärt er. Das heißt, er stellt die Signale und Weichen per Hand über Hebel und Drahtzüge. „Diese Technik ist alt, aber über Jahrzehnte erprobt“, sagt Karg. Auf der Strecke der Paartalbahn ist es der einzige Bahnhof, wo das noch so ist. Passt diese veraltete Technik noch in die heutige Zeit? Provoziert sie vielleicht sogar Fehler? 34 000 Kilometer Schienennetz betreibt die Deutsche Bahn, gesteuert wird der Zugverkehr durch knapp 2800 Stellwerke. Die mechanisch betriebenen machen 27 Prozent aus, vor allem noch auf Nebenstrecken. Bahntechnik-Experte Prof. Edmund Mühlhans erklärt: „Gegen diese Technik ist grundsätzlich nichts einzuwenden, sie ist nach wie vor zulässig.“Allerdings, räumt er ein, hätten die Mitarbeiter, die direkt am Bahngleis sitzen, hier mehr Verantwortung. „Der Fahrdienstleiter muss sich durch Augenschein vergewissern, dass das Gleis, in das ein Zug fahren soll, frei ist“, sagt Mühlhans. Einen Sicherheitsmechanismus, der Alarm schlägt, wenn eine Weiche falsch gestellt ist, gibt es in diesem Fall nicht. „Bei den elektrischen und elektronischen Stellwerken ist das anders. Da ist es technisch nicht möglich, einen Zug in ein besetztes Gleis zu lassen.“Ob die eintretende Dunkelheit eine Rolle gespielt hat? Daran glaubt Mühlhans nicht.
Ein ehemaliger Fahrdienstleiter, der bis 1992 an dieser Stelle in Aichach gearbeitet hat, sagt der
„Es ist ruckzuck passiert, dass man da etwas übersieht.“Man habe schon vor 30 Jahren überlegt, ein Sicherungssystem einzubauen, ein sogenanntes Drucktastenstellwerk. Doch so weit kam es nie. „Wie so oft, mit ein bissle Geld hätte man es verhindern können.“
„Überall waren Blut und Glassplitter am Boden.“Helfer Oliver Furlic
„Wir gehen davon aus, dass normal gebremst wurde.“Bernd Rosenbusch
Der Geschäftsführer der Bayerischen Regiobahn, Bernd Rosenbusch, spricht am Dienstag von einem „tragischen Unglück“. Üblicherweise fahre ein Zug mit maximal Tempo 80 in einen Bahnhof ein. „Wir gehen davon aus, dass normal gebremst wurde.“
Am Ende des Pendlerparkplatzes am Aichacher Bahnhof flattert noch immer das rot-weiße Absperrband der Polizei. Die Unfallstelle ist über hundert Meter entfernt. Das Führerhaus der beschädigten Lok ist mit einer grauen Plane abgedeckt. Bereits seit den Morgenstunden sind Journalisten und Fernsehteams vor Ort. Auf dem Parkplatz stehen keine Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge mehr, sondern Autos. Wie immer. Aber es sind weniger als sonst. Viele Bahnpassagiere haben offenbar das Auto zur Arbeit genommen, nachdem sie von dem schrecklichen Unglück gehört haben. Viele aber sind auf die Paartalbahn angewiesen und nutzen die Ersatzbusse.
Der 24-jährige Clemens Brugger wartet geduldig an der Bushaltestelle. Er muss zur Technikerschule nach Ingolstadt. Dass heute kein Zug kommt und es später wird, stresst ihn nicht. Bedenken, künftig in einen Zug zu steigen, hat er auch nicht. Ein Zugunglück sei so selten wie ein Flugzeugabsturz, sagt er.