Iran lässt Träume wachsen
Sportliche bei der WM, gesellschaftliche in der Heimat
Kasan In einer Stadt wie Kasan den gewohnten Schlafrhythmus zu finden, ist während der Sonnenwende unmöglich. Offizieller Sonnenaufgang 2.58 Uhr. Die Dämmerung setzt eine Stunde früher ein, eine Stunde später schimmert die Sonne über die goldenen Kuppeln. Aber wer will schon schlafen, wenn so viel Aufregendes passiert? Einige Restaurants und Bars hoben kurzerhand die Sperrstunde auf, nachdem viele der 20000 Iraner und Exil-Iraner nach dem zweiten WM-Gruppenspiel gegen Spanien (0:1) nicht ins Bett wollten. Stoff für nächtelange Debatten gab es reichlich.
Denn der tapfere Auftritt in Kasan wurde überwölbt von den bemerkenswerten Entwicklungen in Teheran, die viele Unterstützer parallel auf Twitter-Accounts wie #openstadium verfolgt hatten, beinahe minutiös protokolliert, was parallel am Azadi-Stadion in der Hauptstadt der Heimat passiert war: die Aufhebung des Stadionverbots, das für Frauen des unter der Fuchtel des Klerus stehenden Volkes seit fast vier Jahrzehnten galt. Nun durften sie wieder ein Fußballspiel schauen. Wenn auch vorerst nur auf der Videowand. Zunächst wollten Sicherheitskräfte das Stadion gesperrt lassen, es kam zu Protesten, die letztlich ihre Wirkung nicht verfehlten. Denn die Scheinargumente, dass weibliche Fans angeblich vor dem ungebührlichen Verhalten der männlichen Anhänger geschützt werden müssen, sind längst entlarvt. Angefeuert über die sozialen Netzwerke, die freiheitsliebende Frauen auf russischen Straßen und Stadien zeigen, ging eine Lawine los, die letztlich auch die Staatsmacht überrollte. Ein Abgeordneter des iranischen Parlaments deutete an, „dass die Zuschauer bewiesen haben, dass sie die Regeln respektieren.“Man werde auch das nächste Spiel im Stadion übertragen. Die Regierung deutete vorsichtig ein Einlenken an, und dann wäre die seit dem 5. Oktober 1981 bestehende Ausgrenzung aufgehoben. Insofern könnte die fünfte WM-Teilnahme des Iran einen Meilenstein markieren, der vielleicht der größte Erfolg wäre.
Dass die mit so viel äußerer Energie aufgeladene Mannschaft erstmals das Achtelfinale erreicht, ist zwar vermessen, aber die Ausgangslage für das dritte Gruppenspiel gegen Portugal am Montag gar nicht so schlecht – es braucht in Saransk einen Sieg. Trainer Carlos Queiroz, selbst Portugiese, nahm dafür Anleihen aus dem Tennis: „Wir hatten einen Matchball gegen Spanien, jetzt haben wir noch einen zweiten gegen Portugal.“Und deswegen sollte sich auch niemand über das nicht gegebene Ausgleichstor (62.) von Saeid Ezatolahi ärgern, das zurecht wegen einer Abseitsstellung nicht anerkannt wurde.
Zum weltweiten Renner in den sozialen Netzwerken avancierte dann noch jene Szene, in der Milad Mohammadi bei einem Einwurf mit dem Ball in der Hand vor der Seitenlinie einen Überschlag vollführte, dann aber die Kugel doch ziemlich gewöhnlich zurückwarf. Was dieser eigenartige Versuch bezwecken sollte - auch darüber ließ sich in einer historischen Nacht noch lange diskutieren, in der Schlaf wirklich überflüssig erschien.